Posted by Roman Kowert on December 07, 2024
Die Erfahrung, das erste Mal auf Becketts Werk zu stoßen, beschreibt Badiou für sich als „eine echte Begegnung, eine Art subjektiver Schlag, der mich traf und der eine unauslöschliche Prägung hinterlassen hat“1. Diese Formulierung ist natürlich aufgrund des in ihr anklingenden Konzepts des Ereignisses, das den Kern von Badious philosophischem Projekt bildet, besonders interessant, und dies vor allem aus einem ganz speziellen Grund: das Ereigniskonzept hat bei Badiou dadurch, dass es ursprünglich nicht aus seiner Beschäftigung mit Poesie und Literatur, sondern aus seiner theoretischen und praktischen Auseinandersetzung mit und in der Politik hervorgegangen ist und erst in der Folge begonnen hat, auch für Badious philosophische Auffassungen von Kunst eine konstituierende Rolle zu spielen, eine weit reichende begriffsstrategische Ausdifferenzierung erfahren. Diese Ausdifferenzierung hängt zugleich aber auch mit einer Weiterentwicklung und Transformation von Badious Politikverständnis zusammen. Während nämlich durch das zeitliche Einhergehen mit Badious Beteiligung an den Geschehnissen im Mai 1968 und dem damit verbundenen, maoistisch grundierten Aktivismus und politischen Optimismus das Ereigniskonzept in seiner Entstehung unter den Vorzeichen von omnipräsenten Veränderungsmöglichkeiten in einem Anstrich von allseitiger Umsetzbarkeit erschien, hatten die auf die 1970er Jahre folgenden politischen Entwicklungen, wie Maos Tod, der sich mehr und mehr durchsetzende Neoliberalismus und das Erstarken von revisionistischen und reaktionären Positionen zur Folge, dass Badiou das Ereignis zunehmend im Lichte einer ihm anhaftenden Seltenheit, einer grundlegenden Fragilität und Unverfügbarkeit gesehen hat.2
Dieser Wandel spiegelt sich wieder in Badious Unterscheidung von zwei exemplarischen Figuren politischer Subjektivität, dem militant-aktivistischen guerreur und dem wartenden, ‚Ausschau haltenden’ guetteur.3 Bezeichnend ist nun, dass diese Figur des guetteur, wie Andrew Gibson in seinem Buch über Badiou und Beckett zeigt, im Grunde noch genauer als dies Badiou selbst klar zu sein scheint, der von ihm entwickelten Auffassung von der Literatur der Moderne, vor allem bezogen auf Becketts Werk, entspricht.4 Dieser Auffassung zu Folge kommt in der modernen Kunst eine ‚wartende Subjektivität’ zum Ausdruck, die, anders als das politische Subjekt, das sich in einer Treueprozedur zu einem zurückliegenden Ereignis engagiert, gewissermaßen vor dem Ereignis, d.h. in einer antizipierenden Haltung zu diesem entfaltet.5 Konkret bezieht sich Badiou dabei auf Mallarmé, der unter den Bedingungen der (hierin der Zeit nach 1968 ähnelnden) konterrevolutionären und reaktionären Epoche nach der Niederschlagung der Pariser Kommune dichtete, einer Zeit, in der „poetry becomes a form of ‚restricted action’ at a time when politics has failed. At such a time, poetry takes ‚as its point of departure’, not the event, but its absence. The poem meditates on the lack of an event, on the conditions, that might make events possible again.”6 Für eine solche ereignisarme, wenig hoffnungsvolle Zeit oder Situation, in der nur noch das zu gelten scheint, was ursprünglich einmal von einem Ereignis als überkommen und obsolet in Frage gestellt worden ist, findet Badiou das Wort déchet, welches Gibson mit „remainder“ übersetzt.7
Innerhalb dieses Gegensatzes von durch Ereignisfülle einerseits und Ereignisarmut andererseits gekennzeichneten Situationen und Subjektivitäten, verortet Gibson dann auch das Verhältnis von Badiou zur modernen Literatur, bzw. zu Beckett im speziellen:
Badiou banishes the remainder to the margins of philosophy, as beneath thought, Beckett locates his work squarely within it, as the stuff of art. On the other hand, whilst the event is everywhere central to Badiou’s thought, one can hardly claim this of Beckett, where the event is always theoretically possible, but also none the less can scarcely be said to take place at all.8
In einer solchen Situation von bleierner Schwere und Aussichtslosigkeit bleibt einem auf das Ereignis gerichteten Subjekt nichts anderes übrig, als das, was Badiou die geduldige und gewissenhafte Arbeit der Subtraktion bezeichnet. Gemeint ist damit eine Tätigkeit, die im wesentlichen darin besteht, innerhalb der Konsistenz der scheinbar unabänderlich geltenden Gesetze und Regeln einer Situation durch diese unterdrückte oder kaschierte Inkonsistenzen aufzudecken, Inkonsistenzen, durch die das zum Vorschein kommt, was für Badiou das „Sein als Sein“ ist: die reine Vielfalt, die indifferente Leere unendlicher Mannigfaltigkeiten. In einer Situation, in der so das reine Sein als Leere von dem als konkrete Situation organisierten Sein subtrahiert wird, der Situation also ihre Konsistenz entzogen wird, verlieren die Strukturen ihre Festigkeit und die Regeln die Selbstverständlichkeit ihrer Geltung. Die Verhältnisse insgesamt offenbaren ihre tatsächliche Kontingenz, die Beliebigkeit ihres So-Seins.
Nach Badiou bildet diese Arbeit der Subtraktion die Grundlage von Becketts poetischer Verfahrensweise. Zugleich betont er in dieser Hinsicht aber auch, dass es eine nicht-lineare Entwicklung in Becketts Werk gibt, d.h. verschiedene Blöcke in der Werkbiographie, in denen das Ereignis nicht immer gleich abwesend ist. Vor allem ab dem 1960 erschienenen Roman Wie es ist erkennt Badiou eine zunehmende Relevanz des Ereignisses, während es sich vorher in der Roman-Trilogie und kulminierend in Warten auf Godot (1948) eher um die Welt eines großen Nicht-Ereignisses handelt. Als eine Art Anomalie fällt dabei der frühe Roman Watt von 1943 auf, von dem Badiou sagt, dass der Elan einer schon in ihm zentralen „Befragung des Ereignisses“ von dem Erfolg des nihilistischen „nothing to be done“ in den darauf folgenden Werken verdeckt wurde.9 Die Art dieser Sonderstellung Watts innerhalb von Becketts Werk wird von Badiou zunächst in der folgenden Weise präzisiert:
Beckett hat aber, was das Ereignis betrifft, [in Watt; R.K.] noch ein Stück Weg vor sich. Den nämlich, der von einem Willen, einen Sinn dafür zu finden (ein entmutigender Weg, denn gerade das Ereignis ist jedem Regime des Sinns entzogen), zu dem ganz anderen Wunsch führt, ihm einen Namen zu geben. […] In Watt hat also das Denken die Chance, dass das Ereignis existiert. Aber die Bewegung des Denkens kehrt – einmal erweckt durch die Zwischenfälle – zum Ursprung und zur Wiederholung des Sinns zurück.10
Diese Verortung Watts an der Schwelle zwischen vollkommener Abwesenheit des Ereignisses und dessen potenzieller Präsenz soll im Folgenden auf ihre Implikationen sowohl für Badious Ereignistheorie, als auch für Becketts in diesem Roman praktizierte Poetik hin untersucht werden. Zu diesem Zweck wird es zunächst um eine Konkretisierung der Art und Weise gehen, wie in der Welt von Watt durch jene Arbeit der Subtraktion innerhalb der scheinbar geschlossenen, endlichen Situationen, Entitäten und Konstellationen Formen der Unendlichkeit sich artikulieren und was dies zu bedeuten hat. In einem nächsten Schritt wird die im obigen Zitat anklingende, in Watt besonders wichtige Dimension von Sinn und Bedeutung im Hinblick auf die Ereignisthematik behandelt. Der eigenartige Schwellenstatus des Ereignisses in Watt, seine nur latente, bzw. nur indirekt antizipierte, nie real gegenwärtige Präsenz, soll hier in ihrem Zusammenhang mit der hermeneutischen Haltung der Figur Watt und der darin zum Ausdruck kommenden Logik des Beispiels (wo immer das Ganze sich in seinen Teilen, die Regel in den Einzelfällen ihrer Anwendung sich exemplifiziert bzw. umgekehrt die Einzelfälle den Sinn des Ganzen konstituieren) betrachtet werden.
Das aus diesen beiden ersten Analyseabschnitten Gewonnene ist dann anhand einer textnahen Untersuchung der so genannten Zwischenfälle in Watt („incidents of note“) näher zu bestimmen. Es handelt sich dabei um Begebenheiten, die die Sinnstruktur der Romanwelt für die Figur Watt in ihrer Konsistenz und Stabilität ins Wanken zu bringen drohen. Dass es bloß bei einer Gefährdung der Sinnstruktur bleibt, die aber keine echte Veränderung nach sich zieht, legt die These nahe, dass sich bei ihnen nicht von Ereignissen, sondern nur von etwas, das Badiou Ereignisstätten nennt, sprechen lässt. Abschließend wird das in diesem Dreischritt Erarbeitete zusammenfassend noch einmal auf das Konzept der wartenden Subjektivität in der Literatur der Moderne bezogen.
Um zu verdeutlichen, wie das oben bloß angeschnittene Konzept einer Arbeit der Subtraktion in Watt funktioniert, muss zunächst das spezifische Verständnis, das Badiou von Ontologie hat, in groben Zügen erläutert werden. Spezifisch ist es dabei vor allem darin, dass es grundlegend auf jenem vielleicht bekanntesten Theorem von Badiou aufbaut, dass Ontologie identisch ist mit Mathematik, genauer mit der Mengelehre.11 Und diese Gleichsetzung ist wiederum deswegen entscheidend, weil durch einen mengentheoretischen Begriff des Seins, sowohl holistische, als auch atomistische Positionen in der Ontologie vermieden werden, d.h. es wird die auf den ersten Blick scheinbar widersprüchliche doppelte Ausschließung, dass das Sein weder Eins, bzw. das Eine, noch ein Vielfaches von Einheitlichkeiten ist, auf ein plausibles Fundament gestellt.12 Konkret heißt dies, dass es nur Mengen und Mengen von Mengen gibt, jede Menge in weitere (Teil-)Mengen zerlegbar ist und es weder nach oben („das Ganze“), noch nach unten hin (ein kleinstes, unteilbares Element, Atom) eine letzte Größe gibt.
Jedoch lässt sich andererseits, auch wenn es das Eine bzw. die Eins ontologisch gesehen „nicht gibt“, von so etwas wie „Eins-Effekten“ sprechen,13 womit Operationen am reinen, mannigfaltigen Sein gemeint sind, Operationen des Zählens, Einteilens und Präsentierens, durch die Dinge wie Situationen, Welten, Objekte, also jegliche Art von Entitäten, Konsistenz und Einheitlichkeit gewinnen können. So gesehen ist deshalb alles, was messbar oder auch nur wahrnehmbar ist, alles, worauf in irgendeiner Weise zugegriffen werden kann, immer schon Ergebnis einer solchen Operation am reinen Sein, während dieses selbst, das Sein als Sein, niemals etwas von sich selbst präsentiert. Badiou sagt deshalb, dass das Sein selbst nicht nur radikal vielfach, sondern auch leer ist und dass für die Stringenz einer in diesem Sinne subtraktiven Ontologie, die auf dem Prinzip, dass „Eins nicht ist“, fußt, eine Gleichsetzung des Seins als Sein mit dem Nichts notwendig ist.14
Hält man sich diese so skizzierte subtraktive Ontologie vor Augen, erscheint auch Badious Behauptung plausibel, dass Beckett sich in seiner poetischen Verfahrensweise von Descartes’ methodischem Zweifel inspirieren lässt.15 Die Descartessche Methode kann tatsächlich ebenfalls als subtraktiv bezeichnet werden, insofern es auch in ihr darum geht, die „Eins-haftigkeit“ jedes scheinbar gesicherten Wissensbestands einem radikalen Zweifel zu unterziehen und so letztlich als einen bloßen Einseffekt zu entlarven. Was am Ende dieser Prozedur übrig bleibt, ist bei Descartes das bekannte cogito, ergo sum, eine Bestimmung, die sich durch ihren rein formalen, an keine Gegenständlichkeit gebundenen Charakter auszeichnet. Auf dieses cogito zielt Badiou, wenn er sagt, dass die für Becketts Texte typische Kargheit der dort vorgefundenen Welten und die Armut und Einfachheit sowohl der Figuren, die diese bevölkern, als auch der Sprache, in der sie zum Ausdruck kommen, „nur das Protokoll eines Experiments [sind], das dem Zweifel vergleichbar ist, mit dem Descartes das Subjekt auf die Leere seines reinen Äußerungsakts reduziert“16.
Der hier verwendete Begriff der „Leere“ hat bei Badiou einen wichtigen Stellenwert: in der Sprache seiner subtraktiven Ontologie ist er, wie er sich ausdrückt, die „einzig richtige Benennung des Seins“.17 Diese Benennung kann jedoch, da, wie oben schon ausgeführt, das Sein niemals als solches präsentiert werden kann, auch nie von einer Situation geleistet werden, d.h. die Leere kann nie einfach unter den präsentierten Elementen einer Menge verortet werden. Jedoch wird die Konsistenz und Stabilität jeder Situation immer erst durch eine präsentierende Operation ermöglicht, die im Wesentlichen aus einem systematischen Ausschluss der Leere besteht, so dass die Leere für jede Situation sozusagen indirekt, als eine Spur dieser Ausschlussoperation erhalten bleibt.18
Für ein besseres Verständnis dieses Zusammenhangs, ist es hilfreich, kurz auf Badious – in dem hier bisher Ausgeführten implizit schon berührte – Unterscheidung von zwei Ebenen oder Ordnungen innerhalb der Ontologie einzugehen. Es handelt sich dabei um die Ebene der Präsentation einerseits und die der Repräsentation andererseits. Während sich eine Situation auf der Präsentationsebene dadurch konstituiert, dass sie eine Zählung der Elemente vornimmt, die zu ihr gehören und somit in ihr präsentiert sind, geht es auf der Repräsentationsebene darum, dass diese Zählung gewissermaßen auf sich selbst bezogen verdoppelt oder wiederholt wird, dass also die Zählung selbst noch einmal gezählt wird. Es wird auf dieser Ebene also nicht mehr gezählt, welche Elemente zu der Situation gehören, sondern es wird gezählt, wie diese bereits gezählten Elemente sich innerhalb der Situation zu verschiedenen Gruppen, Klassen und Teilmengen zusammenfügen.
Die Repräsentation zeichnet sich dabei gegenüber der Präsentationsebene vor allem durch die Tatsache aus, dass die Menge aller Teilmengen einer bestimmten Grundmenge19 immer größer ist als die Anzahl der Elemente dieser Grundmenge. Gibt es z.B. drei präsentierte Elemente (A, B, C), dann lassen sich aus ihnen insgesamt acht Teilmengen bilden ({A}, {B}, {C}, {AB}, {AC}, {BC}, {ABC}, 20). Dieser Umstand ist zum Einen deshalb wichtig, weil er verdeutlicht, dass es eine Differenz, eine signifikante Lücke zwischen den beiden Ebenen der Präsentation und der Repräsentation gibt, die für jede Situation konstitutiv ist (die Anzahl der Teilmengen, in denen die Elemente einer Menge gruppiert werden können ist prinzipiell größer als die Anzahl dieser Elemente). Zum Anderen konkretisiert sich durch diese prinzipielle Differenz zwischen Präsentation und Repräsentation die Weise, wie einerseits eine Situation die Leere des reinen Seins ausschließen muss, um konsistent zu sein, und andererseits diese Ausschlussoperation dennoch eine Spur in der Situation hinterlässt, die für die Situation sozusagen unsichtbar ist: die Mengenlehre behauptet nämlich, dass zu allen möglichen Kombinationen der Elemente einer Menge auch eine Menge zu zählen ist, die aus keinem Element der Menge besteht. Diese Teilmenge wird „leere Menge“ genannt und mit dem Symbol „ “ versehen, das betreffende mengentheoretische Axiom ist das so genannte Leermengenaxiom: „Es gibt eine Menge, die keine Elemente enthält.“21
An dieser Stelle müsste auch deutlich geworden sein, warum in dieser Weise das Sein als Sein nur als Spur des Ausschlusses in der Situation, für diese selbst also unsichtbar ist: da es nicht positiv durch Elemente präsentiert, sondern nur als eine Teilmenge, als eine „Vielheit von Nichts“ repräsentiert ist, kann ein bloßes Aufzählen der zu einer Situation gehörigen Dinge das Sein als Sein nicht „ausfindig machen“. Allein jene Zählung der Zählung, also die Untersuchung, wie die Elemente in einer Situation gruppiert und zu Klassen angeordnet werden, kann und muss auch der leeren Menge einen Ort in der Situation geben. Entscheidend ist dabei zugleich, dass die leere Menge nicht selbst das Sein als Sein ist, sondern nur als Zeichen „ “, d.h. immer nur als ein Repräsentant, als ein Platzhalter des Seins verstanden werden darf.22 In genau diesem Sinne sagt Badiou, dass die Leere (eben auch als Wort und Zeichen) die einzig richtige Benennung des Seins ist.
Diese Vorgehensweise einer subtraktiven Ontologie, wie Badiou sie versteht, der Descartes-schen Methode darin ähnlich, dass sie eine Welt, eine Situation, einen Wissensbestand nicht auf der Ebene der darin als-Eins-gezählten präsentierten Elemente betrachtet, sondern quasi solange die Gesamtheit (Potenzmenge) aller zerlegbaren und neu zusammensetzbaren Teilmengen konstruiert, bis sie auf eine Teilmenge stößt, die nicht mehr weiter teilbar ist, weil zu ihr keine distinkten, als einzelne zählbare Elemente gehören, außer ihr selbst: die leere Menge. Bei Descartes ist dies das cogito, insofern es eine nicht mehr anzweifelbare Gewissheit markiert, die aber gerade deswegen nicht mehr anzweifelbar ist, weil sie auf keine konkrete „Einsheit“, keinen verfügbaren Bestand, sondern auf genau die rein formale, leere Tätigkeit verweist, durch deren Ausschluss die Situation bzw. der gegebene Wissensbestand seine Konsistenz und Stabilität bewahren kann. Das cogito ist in Descartes’ Methode also die Spur des Ausschlusses der Leere, ein Signifikant der als Platzhalter für das Sein als Sein dient.
Das Äquivalent einer so verstandenen subtraktiven Ontologie lässt sich in Becketts Werk von Anfang an in der Form einer poetischen Arbeit der Subtraktion oder, wie gemäß verschiedenen Beiträgen der Beckett-Forschung vielleicht eher zu formulieren wäre: einer Poetik der Erschöpfung wieder finden. Friedhelm Rathjen z.B. sieht schon in einem der zentralen Motivkomplexe des gesamten Werks, dem Schädelinnerraum (als Metapher für die, mit Badiou gesprochen, von der Welt der Körper subtrahierte Welt des Geistes), einen „reduzierte[n] Raum, [der] als solcher auf die Reduktionsmechanismen [verweist], die Becketts Gesamtwerk in seiner Entwicklung bestimmen.“23 Noch besser vereinbar mit der subtraktiven Ontologie erscheint Rathjens Feststellung, dass
Becketts Gesamtwerk von Watt bis zu what is the word […] dem Impuls [entspringt], dadurch weiterzumachen, dass alle Möglichkeit zum Weitermachen geleugnet wird, dem Impuls, die Wirklichkeit durch die Falsifikation ihrer Phänomene zu definieren. […] Es gibt unzählige Beispiele für Negativität, Falsifikation und Aufhebung in Becketts Texten, und die Forschung hat sich damit ausgiebig beschäftigt. Becketts Gesamtwerk in seiner chronologischen Entwicklung ist eine Abfolge von Gesten der Zurücknahme, auch der Zurücknahme des Zurücknehmens; jede einmal gewonnene Position wird in der Folge noch wieder hinterfragt.24
Was Rathjen hier bezogen auf Becketts Gesamtwerk beschreibt, schlägt sich im Roman Watt in verschiedenen, spezifischen Formen nieder, die es nun im Folgenden zu untersuchen gilt.
Badiou spricht in seiner Beckett-Interpretation davon, dass eine subtraktive Sprache wie bei Beckett immer davon gefährdet ist, sich nach ihrer Benennung der Leere des Seins auch selbst wieder in ihr eigenes Nichtsein zu verflüchtigen und dass deshalb „die Arbeit der Benennung stets neu zu leisten ist.“25 Diese Benennung unterscheidet sich von der Weise, wie sie in der Philosophie vorgenommen wird, für einen Künstler wie Beckett dadurch, dass bei ihm „der Operator des Denkens die Fiktion in der Prosa“ ist, d.h. die Verflüchtigung des Seins ins Nichts wird in der Prosa vermieden, indem „die Sprache in einer Fiktion seinen Ort bestimmt, es seinem Ort zuweist. Den fiktiven Ort des Seins benennen: dem widmet Beckett zahlreiche Erfindungen.“26 In den ersten Prosawerken Becketts gibt es Badiou zu Folge zwei solche Orte des Seins: einen „offenen“ und einen „geschlossenen“. Wahrend der offene Ort sich an die „Flucht der Erscheinungen“ heftet und wie in Murphy ein scheinbar zielloses Umherstreifen des Protagonisten durch ganze Städte und Länder erlaubt, „[verbietet] der geschlossene Ort […] die Flucht, blockiert die stets drohende Identität von Sein und Nichts, weil die Menge der Bestandteile dieses Orts zählbar und genau benannt ist.“27 Dieser geschlossene Ort entspricht ziemlich genau dem Haus von Mr. Knott in Watt, wo es so aussieht, als hätte alles seinen genauen Platz und als gäbe es restlos für jedes Detail im Ablauf der alltäglichen Verrichtungen zur Deckung von Mr. Knotts Bedürfnissen und zur Erhaltung der ganzen Situation, die dessen Haus darstellt, ganz präzise Anweisungen und Regeln.
Darüber hinaus konstatiert Badiou innerhalb der Entwicklung von Becketts Werk eine allmähliche Verschmelzung dieser beiden Orte des Seins in etwas, das Beckett selbst oft mit dem Wort „Halbdunkel“ beschreibt und wo es darum geht,
die Bühne des Seins zu fixieren, ihre Beleuchtung zu bestimmen, die – gerade weil wir „kurz davor“ stehen. dass etwas passiert – in der Neutralität dessen, was weder Nacht noch Licht ist, erfasst werden muss. Welche Farbe ist dem leeren Ort, der der Hintergrund von jeder Existenz ist, am angemessensten? Das dunkle Grau oder das helle Schwarz, antwortet Beckett, oder das Schwarz, das von einer unbestimmten Farbe markiert ist. Diese Metapher bezeichnet das Sein in seiner von jedem Ereignis entleerten Lokalisierung.28
Es ist nicht zu übersehen, dass auch dieser Ort des Halbdunkels in Watt vorzufinden ist. Im Prinzip ist der größte Teil der Rahmenhandlung in ein solches diffuses Dämmerlicht getaucht: schon die erste Romanszene (in der Watts Auftreten erst spät und wie eine Zufälligkeit nur aus der Ferne von den hier in Bezug auf die eigentliche Romanhandlung selbst noch kontingent erscheinenden Nebenfiguren Mr. Hackett und dem Ehepaar Tetty und […] Goff wahrgenommen wird) wird als ein in „shadows“ und „long greens and yellows of the summer evening“ sich hinziehender „dying day“29 beschrieben. Vor allem der hier vom Szenenpersonal aus der Ferne erblickte Watt selbst erscheint als eine in diesem Halblicht kaum von ihrem Hintergrund zu unterscheidende Figur: „[…] motionless, a solitary figure, lit less and less by the receding lights, until it was scarcely to be distinguished from the dim wall behind it. Tetty was not sure if it was a man or a woman. […] He stood with his back towards them, from the waist up faintly outlined against the last wisps of day.”30
Noch auffälliger erscheint diese Kulisse oder szenische Aura des Halbdunkels in der Textpassage, in der Watts Betreten des Hauses von Mr. Knott geschildert wird. Seit der Anfangsszene, in der Watt gerade auf dem Weg zum Bahnhof war, um mit dem Zug zu Mr. Knott zu reisen, ist einige Zeit vergangen, sodass sich das Geschehen nun in der Phase abspielt, wo die Schwärze der Nacht („The house was in darkness“31) langsam in das Grau der Morgendämmerung übergeht. Die gesamte Passage scheint dabei auf verschiedenen Ebenen dieses formale Prinzip der Schwelle als Zustand oder als Übergang zwischen Gegensätzen zu wiederholen. Schon im rein wörtlichen Sinne ist es die Schwelle des Hauses, in der diese Form von gleitendem Übergang ohne distinkte (d.h. „zählbare“, „wissbare“) Grenze im Sinne eines Zugleich von Offenheit und Geschlossenheit des Eingangs zum Ausdruck kommt:
Finding the front door locked, Watt went to the back door. He could not very well ring, or knock, for the house was in darkness. Finding the back door locked also, Watt returned to the front door. Finding the front door locked still, Watt returned to the back door. Finding the back door now open, oh not open wide, but on the latch, as the saying is, Watt was able to enter the house. Watt was surprised to find the back door, so lately locked, now open. […] Watt never knew how he got into Mr Knott’s house. He knew that he got in by the back door, but he was never to know, never never to know, how the back door came to be opened.32
An dieser Stelle findet sich einer der ersten Fälle der für Watt so typischen formalen Exerzitien, jener gegen Ende des Romans fast bis ins Uferlose tendierenden Paradigmen, in denen sich der Versuch äußert, Wissens- oder Wahrnehmungslücken durch ein systematisches Durchspielen aller in Frage kommenden Hypothesen und Anordnungsmöglichkeiten der Elemente zu schließen. Die hier erst minimale und nur ansatzweise erkennbare Arbeit der Subtraktion ist auf die geringe Anzahl der gruppierbaren Elemente (es sind nur zwei, A, B, geschlossene Vorder- und Hintertür) zurückzuführen, jedoch ergibt die „Ausformulierung“ von deren Potenzmenge ({A} „front door locked“, {B} „back door locked“, {AB} „front door locked“ + „back door locked“, „back door, so lately locked, now open“), dass es auch eine leere Menge gibt, d.h. eine Teilmenge der Situation, die auf deren Ebene der Präsentation, dem rational, aus der Gesamtheit aller als distinkt wahrnehmbaren Elemente sich ergebenden Zustand (beide Türen geschlossen), unsichtbar ist: die leere Menge beinhaltet kein Element der Situation und verweist somit auf die Möglichkeit der Veränderung, auf die Möglichkeit, dass eine geschlossene Tür, ohne dass ersichtlich ist, wie, plötzlich offen sein kann, und bildet so die Inkonsistenz und Ununterscheidbarkeit des Seins als Sein ab.33
Zwei weitere bildhafte Ausformulierungen dieser Poetik der Erschöpfung sollen hier kurz noch betrachtet werden, bevor zum Verhältnis zwischen Hermeneutik und Sinn (konkret: der Logik des Besipiels) und subtraktiver Ontologie in Watt überzugehen ist.
Gleich nachdem Watt das Haus betreten hat, setzt er sich in die Küche und beobachtet, wie die Kohle auf dem Herdrost, scheinbar schon ganz zu Asche verbrannt, noch eine letzte Glut in sich trägt:
Watt saw, in the grate, of the range, the ashes grey. But they turned pale red, when he covered the lamp, with his hat. The range was almost out, but not quite. […] So Watt busied himself a little while, covering the lamp, less and less, more and more, with his hat, watching the ashes greyen, redden, greyen, redden, in the grate, of the range.34
Nicht nur erinnert das „the range was out, but not quite“ erstaunlich genau an eine Maxime Becketts, die Badiou anführt, um die Arbeit der Subtraktion bzw. die Poetik der Erschöpfung und Isolierung der leeren Menge prägnant zu veranschaulichen: „Unfruchtbare Erde, aber nicht ganz. Und doch muss man die Unfruchtbarkeit der Erde sagen! Aber letzten Endes doch nur, um das ‚nicht ganz’ in der Prosa funkeln zu lassen.“35 Auch kann Badious Formulierung, dass es der Zweck des Halbdunkels ist, „die Bühne des Seins zu fixieren, ihre Beleuchtung zu bestimmen“ in Bezug auf diese Textstelle noch spezifiziert werden: In seinem Kommentar zu Watt verweist C.J. Ackerley auf eine Deutungshypothese bezüglich dieser Stelle von Rubin Rabinovitz:
Rabinovitz suggests an analogy with Descartes’s use of illumination as a metaphor for thought: the coal, the mind as object; the lamp, the mind as subject; and the paradox of futility arising as a consequence of the way that the more light one directs towards the mind the more difficult it becomes to discern its inner glow.36
Das Licht der Lampe steht in diesem Fall für die sich restlos über die Präsentation legende Repräsentation, für den von außen vereinheitlichenden Blick auf die Distinktheit der Elemente einer Situation. Diese Lichtquelle muss von der Eins der Situation subtrahiert werden, damit in den Schatten die tatsächliche Tätigkeit des „inneren Lichts“ als leere Menge, ähnlich wie die Tätigkeit des Subjekts in Descartes’ cogito, zum Vorschein kommen kann.
Eine weitere Textpassage, in der Aspekte der subtraktiven Ontologie in jenem „Operator der Fiktion der Prosa“ in Watt formuliert erscheinen, ist die Schilderung der Weise, wie Watt die Mahlzeiten für Mr. Knott zubereitet. Da hier die Arbeit der Subtraktion in einer besonders bezeichnenden Form zur Darstellung gebracht wird, insofern sie ganz konkret auch als tatsächlich körperlich mühevolle Anstrengung erscheint, soll sie einmal in ihrer ganzen Länge zitiert werden:
Mr Knott's meals gave very little trouble. On Saturday night a sufficient quantity of food was prepared and cooked to carry Mr Knott through the week. This dish contained foods of various kinds, such as soup of various kinds, fish, eggs, game, poultry, meat. cheese, fruit, all of various kinds, and of course bread and butter, and it contained also the more usual beverages, such as absinthe, mineral water, tea, coffee, milk, stout, beer, whiskey, brandy, wine and water, and it contained also many things to take for the good of the health, such as insulin, digitalin, calomel, iodine, laudanum, mercury, coal, iron, camomile and worm-powder, and of course salt and mustard, pepper and sugar, and of course a little salicylic acid, to delay fermentation.
All these things, and many others too numerous to mention, were well mixed together in the famous pot and boiled for four hours, until the consistence of a mess, or poss, was obtained, and all the good things to eat, and all the good things to drink, and all the good things to take for the good of the health were inextricably mingled and transformed into a single good thing that was neither food, nor drink, nor physic, but quite a new good thing, and of which the tiniest spoonful at once opened the appetite and closed it, excited and stilled the thirst, compromised and stimulated the body's vital functions, and went pleasantly to the head.
It fell to Watt to weigh, to measure and to count, with the utmost exactness, the ingredients that composed this dish, and to dress for the pot those that required dressing, and to mix them thoroughly together without loss, so that not one could be distinguished from another, and to put them on to boil, and when boiling to keep them on the boil, and when boiled to take them off the boil and put out to cool, in a cool place. This was a task that taxed Watt's powers, both of mind and of body, to the utmost, it was so delicate, and rude. And in warm weather it sometimes happened, as he mixed, stripped to the waist, and plying with both hands the great iron rod, that tears would fall, tears of mental fatigue, from his face, into the pot, and from his chest, and out from under his arms, beads of moisture, provoked by his exertions, into the pot also. His moral reserves also were severely tried, so great was his sense of responsibility. For he knew, as though he had been told, that the receipt of this dish had never varied, since its establishment, long long before, and that the choice, the dosage and the quantities of the elements employed had been calculated, with the most minute exactness, to afford Mr Knott, in a course of fourteen full meals, that is to say, seven full luncheons, and seven full dinners, the maximum of pleasure compatible with the protraction of his health.37
Eine Reihe von Aspekten ist in dieser Passage in Bezug auf das Konzept der Arbeit der Subtraktion relevant. Zunächst einmal handelt es sich bei dieser für Mr. Knott zubereiteten „Mahlzeit“ um eine ganz besondere Form von Mahlzeit, denn es ist gar kein spezifisches Gericht, für das bestimmte Zutaten in einer bestimmten Weise zuzubereiten sind, sondern im Grunde nur eine Addition „aller möglichen“, überhaupt als distinkte konsumierbare Substanzen präsentierbaren, also „als-Eins-zählbaren“ und messbaren Zutaten. Die „äußerste“ und „peinlichste Genauigkeit“, die Watt bei der Zubereitung zu beachten hat, ist dabei dem Umstand geschuldet, dass man es hier mit einer Szene innerhalb des von Badiou so benannten geschlossenen Orts, dem Haus von Mr. Knott zu tun hat, im Gegensatz zu den „subtraktiven Szenen“ des Halbdunkels, die oben behandelt wurden. Diese Geschlossenheit bringt auf der Mikroebene ein auch von Badiou in seinen kurzen Ausführungen zu Watt ausdrücklich hervorgehobenes38 Wesenprinzip auf den Punkt, das auf der Makroebene für das Haus von Mr. Knott als Ganzem gilt: „Watt had more and more the impression, as time passed, that nothing could be added to Mr. Knott's establishment, and from it nothing taken away, but that as it was now, so it had been in the beginning, and so it would remain to the end, in all essential respects.“39 Die für das Verhältnis von Präsentations- und Repräsentationsebene der Situation konstitutive Lücke scheint hier verschwunden, die beiden Ebenen zur Deckung gebracht worden zu sein. Zugleich aber zeigt die restlose Vermischung und Vermengung all dieser Zutaten zu einer einheitlich-indifferenten, ununterscheidbaren Masse letzten Endes, dass keine noch so restlose Zählung der Elemente einer Situation die tatsächliche Bedingtheit ihrer Verfassung, d.h. die durch die – die Konsistenz der Situation erst erzeugende – Operation des Ausschlusses der Leere in der Situation selbst hinterlassene Spur des Seins, mit zum Vorschein bringen („zählen“) kann: die bei dieser Poetik einer wortwörtlichen Erschöpfung mit in den Topf hineinfallenden Tränen entsprechen der leeren Menge, als einer Teilmenge des Ganzen, die selbst keine Elemente enthält, die zu diesem Ganzen (dem zuzubereitenden Rezept) gehören. Es ist, wie bei Descartes, die Tätigkeit des Subjekts, das cogito, das auf der Präsentationsebene unsichtbar ist und sich erst nach einer sich von jeder Eins subtrahierenden Durchquerung der Repräsentationsebene lokalisieren und benennen lässt.
Bei Badiou ist dieser Zusammenhang bezogen auf andere Texte von Beckett, wie Molloy und Worstward Ho folgendermaßen artikuliert:
Jede Fiktion, so sehr sie der Errichtung des Orts des Seins, sei es als Schließung sei es als Öffnung, verpflichtet sein mag, setzt ein Subjekt voraus oder verkettet es. Und dieses Subjekt nimmt sich vom Ort aus, ganz einfach weil es ihn benennt und weil es gleichzeitig zu dieser Benennung Distanz hält. Der, für den es das Grauschwarz gibt, hört nicht auf, nachzudenken und sich erneut der poetischen Arbeit der Lokalisierung zu widmen. Dieses Tun lässt ihn wie ein unverständliches Supplement des Seins hinzukommen, ein Supplement, das die Prosa in eben der Zeit transportiert, da sie, das Wirkliche und das Nichts gleichsetzend, alle ihre Energie darauf verwendet, für kein Supplement mehr Raum zu lassen. Daher die Folter des Cogito.40
Badious Unterscheidung von verschiedenen Orten des Seins, die in der Fiktion der Prosa lokalisiert werden, erscheint in Watt in einer spezifischen Verteilung: während die Logik des offenen Orts,41 die in Watts Weg vom Bahnhof hin zu und von Mr. Knotts Haus zurück gegeben ist, schon von der Anfangsszene an allmählich immer mehr vom Paradigma des Grauschwarz, des Dämmerlichts und des Halbdunkels überlagert wird, bis dieses an der Schwelle zum Haus seine größte Ausgeprägtheit erreicht, herrscht innerhalb des Hauses das Prinzip der Geschlossenheit vor. Als Zwischenthese lässt sich nun Folgendes festhalten: sowohl der offene, als auch der geschlossene Ort schließen beide jeweils für sich allein genommen, das Halbdunkel im Sinne einer Manifestation des mit dem Nichts identischen Seins als Sein aus, jedoch auf jeweils unterschiedliche, bzw. gegensätzliche Weise. Vermeidet der offene Ort das zu Tage treten der Lücke zwischen Präsentation und Repräsentation, indem er eine kontinuierliche Fluchtbewegung von einer Situation zur nächsten inszeniert, bewerkstelligt der geschlossene Ort selbiges dadurch, dass er sich von allen andern Situationen abschottet, das Außen minimiert und so ein restloses Aufgehen der in ihm präsentierten Elementen in deren Anordungsstruktur suggeriert.
Inwiefern nun gerade der geschlossene Ort dazu prädestiniert ist, ein Hereinbrechen jener halbdunklen Indifferenz des Seins (als eines vor allem dort letzten Endes unvermeidlich sich auftuenden Risses im scheinbar lückenlosen Wirklichkeitsgewebe aus Präsentation und Repräsentation) in einer besonders markanten Weise zur Darstellung zu bringen, soll im nächsten Kapitel in zwei Schritten erörtert werden. Zunächst wird es darum gehen zu fragen, was es vor dem Hintergrund einer subtraktiven Ontologie bedeutet, dass Watt, wie Badiou sagt, „ein Hermeneut, ein Interpret“42 ist und wie dessen einer Logik des Beispiels und des Exemplifizierens folgende hermeneutische Haltung zur Arbeit der Subtraktion in Widerspruch steht. Im zweiten Schritt muss dann gezeigt werden, wie sich dieses unentwegte Streben von Watt nach Sinnkonstitution in einer ihre latente Sinnentleertheit zunehmend offenbarenden Situation in seiner Auseinandersetzung mit den so genannten „bemerkenswerten Zwischenfällen“ niederschlägt. Dazu soll der erste und im Roman zugleich am prägnantesten geschilderte „Zwischenfall“, der Besuch der Klavierstimmer im Hause Mr. Knotts, einer textnahen Lektüre unterzogen werden.
Die Beziehung, in der Watts hermeneutische Haltung zur subtraktiven Ontologie steht, lässt sich am besten durch denjenigen philosophischen Standpunkt, den Badiou den konstruktivisti-schen nennt, erläutern. Dieser ist (neben dem transzendentalen und dem generischen) einer von drei grundlegenden Weisen, mit dem umzugehen, was weiter oben als die irreduzible Lücke zwischen der Präsentations- und der Repräsentationsebene einer Situation beschrieben worden ist. Die konstruktivistische Denkweise postuliert, dass in einer Situation für jedes präsentierte (und nicht-präsentierte) Element eine Teilmenge konstruierbar sein muss, in der seine Präsenz oder Nicht-Präsenz repräsentiert ist, sie
versucht, eine Sprache für die Situation zu entwickeln, die klar unterscheiden kann, was Teil der Situation ist und was nicht. Gemäß dieser Orientierung bestimmt die Verfassung, was existiert, und versucht, die Lücke zwischen sich und der Situation zu verwischen. Für die konstruktivistische Orientierung existiert das, was nicht in einer Sprache ausgedrückt werden kann, einfach nicht. Und da idealerweise jeder Vielheit ein Name gegeben werden kann – sogar ein völlig willkürlicher –, gibt es gemäß dieser Orientierung nichts außerhalb der Verfassung. Alles kann benannt werden – das, was präsentiert ist und das, was nicht präsentiert ist; es gibt dann nichts, was nicht benennbar ist.43
Vor diesem Hintergrund des Entscheidens, was Teil der Situation ist und was nicht, muss auf eine andere wichtige Weise verwiesen werden, in der Badiou das Wesen der Lücke zwischen Präsentation und Repräsentation kenntlich macht: der Unterschied zwischen Zugehörigkeit zu und Einschluss von Vielheiten in eine Situation. Ausgehend von dem Verhältnis dieser beiden Kriterien zueinander kann es drei verschiedene Typen von Vielheiten in einer Situation geben: „normale“, „singuläre“ und „überschüssige“. Vielheiten, die „normal“ sind, sind einer Situation zugehörig (in ihr präsent, sichtbar), und zugleich in ihre Verfassung, ihre Metastruktur eingeschlossen (repräsentiert, spielen also eine signifikante Rolle innerhalb der Sinnstruktur der Situation). „Singulär“ sind Elemente, die zwar als Eins gezählt, aber zu keiner bestimmten Teilmenge zusammengeschlossen sind. Bei „überschüssigen“ Vielheiten wiederum handelt es sich um Teilmengen von bestimmten Elementen, die als Teilmenge noch einmal gezählt werden und so einen eigenständigen Teil der Situation bilden.44
Eine konstruktivistisch-hermeneutische Position würde vor diesem Hintergrund postulieren, dass die Elemente und die Teilmengen einer Situation restlos miteinander zur Deckung gebracht werden können. Zur Bewerkstelligung dieses Zur-Deckung-Bringens böte sich dann vor allem eine argumentative Figur an: das Beispiel. Dessen Vorgehensweise bestände dabei darin, dass einfach jeder Teilmenge bestimmte Elemente zugeordnet werden und umgekehrt. Auf die Typologie Badious bezogen würde das dann bedeuten, dass es die „Aufgabe“ des Beispiels wäre, „normale“ Vielheiten zu bilden, bzw. die Situation als ganze auf diese Weise zu „normalisieren“, so dass die Lücke zwischen Präsentation und Repräsentation minimiert und verwischt wird.
In eben diesem Sinn thematisiert Agamben in seinem Buch Homo Sacer das Beispiel unter explizitem Bezug auf Badious Ontologie. Dabei sieht er das Beispiel als in einem symmetrischen Verhältnis zur Figur der Ausnahme stehend, welcher sein Hauptaugenmerk gilt:
Ausnahme und Beispiel sind die beiden Modi, mittels derer eine Menge die eigene Kohärenz herzustellen und zu erhalten sucht. Doch während die Ausnahme, wie wir gesehen haben, eine einschließende Ausschließung ist (also dazu dient, das einzuschließen, was ausgeschlossen wird), funktioniert das Beispiel als ausschließende Einschließung.45
Agamben führt Badious Unterscheidung von Zugehörigkeit und Einschließung erst einige Seiten später im Text ein. Was hier mit „ausschließende Einschließung“ ausgedrückt ist, kann mit Badiou als ein Vorgang beschrieben werden, in welchem ein als präsentiert gezähltes Element zum exemplarischen Fall einer Regel, einer Klasse, eines theoretischen Konzepts erklärt wird, indem es noch einmal gezählt wird, so dass es spezifisch in einer Teilmenge organisiert und somit in der Situation und Grundmenge nicht nur präsentiert, sondern auch re-präsentiert ist. „Einschließend“ ist das Beispiel nun in seiner Eigenschaft, doppelte Zählung, Zählung der Zählung zu sein: etwas ist als Repräsentation in die Verfassung der Situation eingeschlossen. „Ausschließend“ ist diese Einschließung aber in der Hinsicht, dass die zweite Zählung des Elements durch das Beispiel eben nur auf der Ebene der Repräsentation stattfindet, das Beispiel als Repräsentation des Elements also von der Präsentationsebene „ausgeschlossen“ ist. Solange man Präsentations- und Repräsentationsebene im Sinne Badious nicht unterscheidet, scheint es einen Widerspruch in der Funktionsweise des Beispiels zu geben, wie dies sowohl in Agambens Oxymoron „ausschließende Einschließung“, als auch in seiner weiteren Erläuterung des Beispiels zum Ausdruck kommt:
Man nehme den Fall des grammatikalischen Exempels: Das Paradox besteht hier darin, dass eine einzelne Aussage, die sich in nichts von den anderen Fällen ihrer Art unterscheidet, von diesen gerade insofern isoliert wird als sie zu ihnen gehört. Wenn man als Beispiel eines performativen Sprechakts das Syntagma „Ich liebe dich“ ausspricht, kann es einerseits nicht wie in einem normalen Kontext verstanden werden, andererseits aber muss es wie eine reale Aussage behandelt werden, um als Beispiel fungieren zu können. Was das Exempel zeigt, ist seine Zugehörigkeit zu einer Klasse, aber genau darum fällt es im selben Moment, da es diese zur Schau stellt, als exemplarischer Fall aus ihr heraus (im Fall eines linguistischen Syntagmas zeigt es das eigene Bedeuten und hebt auf diese Weise die Bedeutung auf). Wenn man nun fragt, ob die Regel auf das Beispiel angewandt wird, so ist die Antwort nicht einfach, denn man wendet die Regel nur auf das Beispiel als Normalfall an, und eben nicht als Beispiel. Das Beispiel ist aus dem Normalfall nicht deshalb ausgeschlossen, weil es nicht dazugehörte, sondern weil es seine Zugehörigkeit zur Schau stellt. Es ist tatsächlich parádeigma im etymologischen Wortsinn, das was „sich daneben zeigt“; eine Klasse kann alles beinhalten, nur nicht das eigene Paradigma.46
Geht man davon aus, dass diese von Agamben so beschriebene funktionale Widersprüchlichkeit des Beispiels einfach die Form ist, in der die Lücke zwischen Präsentation und Repräsentation erscheint, solange die beiden Ebenen nicht unterschieden werden, dann ist im Hinblick auf das Beispiel schon mal eines zu folgern: eine im Sinne von Badious Typologie „normale“ Vielheit, die es aus Sicht eines hermeneutisch-konstruktivistischen Ansatzes sein müsste, kann das Beispiel vor diesem Hintergrund nicht sein. Ebenso wenig kann es sich hier um eine „singuläre“ Vielheit handeln, da es ein präsentiertes Element gibt, das (in spezifischer Weise) auch repräsentiert wird. Bleibt nur noch der dritte Typus, die „überschüssige“ Vielheit. Tatsächlich entspricht das Beispiel diesem Typus, denn es wird ja ein Einzelfall, ein Element repräsentiert, das als Repräsentiertes (für exemplarisch erklärtes) mehr ist, als es selbst. Jedoch hat man sich diese Überschüssigkeit nicht ganz genau so vorzustellen, wie sie bei Agamben anklingt: es ist zwar nicht grundsätzlich falsch zu sagen, dass das Beispiel „Klassen“ bildet, die bestimmte Elemente enthalten, ihr eigenes Paradigma aber aus sich ausschließen müssen. Falsch ist vielmehr die durch diese Formulierung geweckte Assoziation, dass die logische Struktur des Beispiels letztendlich aus so etwas wie einer Auflistung, einer simplen, additiven Aufzählung oder einem Register aller unter die betreffende Regel fallenden Einzelfälle bestände. Das Besondere am Beispiel ist nämlich gerade die Tatsache, dass es ein einzelnes Element ist, das sozusagen in den Rang einer Inkarnation der Klasse oder Regel erhoben wird. Wie hat man sich dann aber die ontologische Struktur des Beispiels vorzustellen?
Um dies zu beantworten, ist es lohnenswert, sich zu vergegenwärtigen, welche Funktion Hegel dem Beispiel in und für seine Philosophie beimisst. Todd McGowan skizziert diese Funktion folgendermaßen:
Hegel grants the example a philosophical significance that no other thinker had historically bestowed on it. He didn’t, of course, invent the example, but he privileges the example over the concept without abandoning the concept. By using an example, Hegel believes, one doesn’t just concretize a concept but rather constitutes it. The example is the ground of the concept in Hegel’s system. Based on his relationship to the example, Hegel marks a turning point in the history of philosophy.47
Die auch von Wittgenstein vertretene Auffassung, dass das Beispiel dem Begriff überlegen ist, weil es zeigt und nicht, wie dieser, nur sagt, wird, so McGowan,48 bei Hegel vorweggenommen:
An argument proclaims its own knowledge but cannot proclaim its reliance on what escapes that knowledge. This is where the superiority of the example to the argument lies. Like the example, the argument relies on what it opposes and cannot escape antagonism, but unlike the example, the argument cannot articulate its own antagonistic structure. One might say that an argument is just an example that doesn’t realize that it is an example. In contrast to the argument, the example illustrates its own failure. It has the capacity to successfully indicate what it fails to state directly. Through the example, we see that the concept says more than it seems to say.49
McGowan nimmt dabei Bezug auf eine Stelle in der Phänomenologie des Geistes, in der Hegel erläutert, ob unmittelbares Wissen durch sinnliche Gewissheit möglich ist. Diese Ansicht, dass es ein unmittelbar und unvermittelt zugängliches Wissen geben könnte, beruht nach Hegel auf der falschen Vorstellung von der Existenz eines reinen Seins, das durch die Sinne einfach erkannt und in der Sprache benannt werden könne, ohne dadurch etwas an seiner Reinheit und selbstidentischen Vollständigkeit wegzunehmen oder zu verändern.50 Diese Vorstellung – so lässt sich die Verbindung zum hier verfolgten Thema – liegt letztendlich dem hermeneutisch-konstruktivistischen Standpunkt zu Grunde, insofern dieser die Lücke zwischen Präsentation und Repräsentation nicht als für das Sein selbst konstitutiv, sondern als unwesentliche Zufälligkeit oder eine Unzulänglichkeit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit betrachtet, die es so weit wie möglich zu minimieren gilt. Auch wenn die Vollständigkeit und Selbstidentität für den hermeneutischen Konstruktivisten also nur annäherungsweise erkennbar ist, bleibt die Annahme ihrer Tatsächlichkeit für ihn doch das, was seine Denkweise ontologisch bestimmt. Das Beispiel, welches für Letzteren nun gerade als ein zentrales Instrument innerhalb dieses Annäherungsprozesses fungiert (der Konstruktion „normaler“ Vielheiten und dadurch bewerkstelligten Erhaltung der Konsistenz einer Situation), stellt für Hegel umgekehrt gerade ein erst zu überwindendes Hindernis dar:
An dem reinen Sein aber, welches das Wesen dieser Gewißheit ausmacht und welches sie als ihre Wahrheit aussagt, spielt, wenn wir zusehen, noch vieles andere beiher. Eine wirkliche sinnliche Gewißheit ist nicht nur diese reine Unmittelbarkeit, sondern ein Beispiel derselben.51
Hegel spielt diese Logik des Beispiels als einer Dialektik zwischen Wesen und Erscheinung dann exemplarisch an der Vorstellung des unmittelbaren Wissens und der sinnlichen Gewissheit durch. Er sagt, um das Wesen der sinnlichen Gewissheit zu erfassen, muss es sich erst an einem konkreten Fall erweisen. Da eine der grundlegenden Kategorien von sinnlicher Gewissheit und Unmittelbarkeit das „Jetzt“, der Augenblick, ist, reicht es, als Beispiel einen Satz wie „Jetzt ist die Nacht“ als einen solchen konkreten Einzelfall zu formulieren und dann zu schauen, was das Unveränderliche an diesem Beispiel, also das Wesen des Begriffs, den es exemplifiziert, ist. Schreibt man dazu den Satz auf, sieht man am nächsten Tag, dass der Term „Nacht“ seine Gültigkeit verloren hat, aktuell nicht mehr zutrifft, und allein das reine „Jetzt“ noch Bestand hat. Da das „Jetzt“ aber semantisch nicht nur alle vergangenen und alle zukünftigen Zeitpunkte ausschließt, sondern auch, wie durch das Aufschreiben offenbart wird, auch den augenblicklich jeweils gemeinten, lässt sich seine logische Bewegung als ein Zugleich von konkretisierendem Bezug auf einen Einzelfall (und Ausschluss aller anderen möglichen Einzelfälle) und Negation auch des einen Einzelfalls als Einzelfall beschreiben. Das Wesen von sinnlicher Gewissheit stellt sich somit als eine allgemeine Negativität dar, die den positiven Einzelfall nur braucht, um sich von ihm abzusetzen. Der positive Einzelfall dient nur als Verkörperung der Negativität des Wesens. In genau diesem Sinn zeigt das Beispiel, woran der bloße Begriff der sinnlichen Gewissheit vorbeigeht, wenn er versucht, es zu sagen: den inhärenten Antagonismus des Begriffs, der darin besteht, als unmittelbares, „evidentes“ Wissen nur über die Vermittlung allgemeiner, nicht-sinnlicher Kategorien erscheinen zu können.
Übersetzt man nun dieses Verständnis von der Logik des Beispiels in das ontologische Schema Badious, dann ergibt sich eine Struktur, die auf der Präsentationsebene ein einzelnes Element auswählt, das dann auf der Repräsentationsebene in einer Teilmenge organisiert wird, die nur aus diesem Element und aus noch etwas weiterem besteht, nämlich der leeren Menge , die oben erläutert wurde. In Hegels Beispielssatz „Jetzt ist die Nacht“ wäre „Nacht“ das Element A und „Jetzt“ die leere Menge: das Zeitpunkt-Element „Nacht“ wird als Einzelfall ausgewählt und durch Beifügung der leeren Menge „Jetzt“ alle anderen Zeitpunkt-Elemente aus der Teilmenge ausgeschlossen und zugleich das ausgewählte Element als bloß vereinzelt-zufälliges negiert und so in den Status der Exemplarizität erhoben.
Um nun zu Watt zurückzukehren, lässt sich auf der Grundlage der vorangehenden Überlegungen folgendes formulieren. Bevor Watt seinen Dienst im Haus von Mr. Knott antritt, führt er das Leben eines Hermeneuten, der, man könnte sagen, so erfolgreich ist, dass die hermeneutische Tätigkeit, das Verstehen als solches, gar nicht gesondert als Verfahren in Erscheinung treten muss. Das Dasein präsentiert sich ihm als eine bloße Oberfläche, ohne in den Gegensatz von Wesen und Erscheinung auseinander zu fallen:
The most meagre, the least plausible, would have satisfied Watt, who hat not seen a symbol, nor executed an interpretation, since the age of fourteen, or fifteen, and who had lived, miserably it is true, among face values all his adult life, face values at least for him. Some see the flesh before the bones, and some see the bones before the flesh, and some never see the bones at all, and some never see the flesh at all, never never see the flesh at all. But whatever it was Watt saw, with the first look, that was enough for Watt. And he had experienced literally nothing, since the age of fourteen, or fifteen, of which in retrospect he was not content to say, That is what happened then.52
Dies ist im Prinzip eine Existenz, die unter jenem Schein eines unmittelbaren Wissens der sinnlichen Gewissheit geführt wird, den Hegel beschrieben hat und der vom hermeneutisch-konstruktivistischen Ansatz als objektive Wahrheit postuliert wird, dem sich das menschliche Erkennen und Verstehen immer nur annähern kann. Eine Welt ohne konstitutive Lücke zwischen Präsentation und Repräsentation, zusammengesetzt aus lauter „normalen“ Vielheiten. Erst nachdem Watt den geschlossenen Ort des Seins betreten hat, als der Mr. Knotts Haus sozusagen konzipiert ist, ein Ort also, der durch den Anspruch der ontologischen Lückenlosigkeit von sinnlicher Gewissheit geradezu programmatisch definiert ist, ändert sich sein Verhältnis zur Wirklichkeit. Dieses veränderte Verhältnis äußert sich in einer Vielzahl von Auffälligkeiten und Phänomenen. Eine der eindrücklichsten unter diesen Auffälligkeiten ist sein verändertes Verhältnis zu den Dingen, den einfachen Gegenständen des Hauses, die er nun nicht mehr klar benennen kann, was signifikanterweise am prägnantesten eben anhand eines Topfes geschildert wird, jenem gleichend, in welchem Watt das Essen für Mr. Knott zuzubereiten hat:
[…] Watt now found himself in the midst of things which, if they consented to be named, did so as it were with reluctance. And the state in which Watt found himself resisted formulation in a way no state had ever done, in which Watt had ever found himself, and Watt had found himself in a great many states, his day. Looking at a pot, for example, or thinking of a pot, at one of Mr. Knott’s pots, of one of Mr. Knott’s pots, it was in vain that Watt said, Pot, pot. Well, perhaps not quite in vain, but very nearly. For it was not a pot, the more he looked, the more he reflected, the more he felt sure of that, that it was not a pot at all. It resembled a pot, it was almost a pot, but it was not a pot of which one could say, Pot, pot, and be comforted. It was in vain that it answered, with unexceptionable adequacy, all the purposes, and performed all the offices, of a pot, it was not a pot. And it was just this hairbreadth departure from the nature of a true pot that so excruciated Watt. For if the approximation had been less close, then Watt would have been less anguished. For then he would not have said, This is a pot, and yet not a pot, no, but then he would have said, This is something of which I do not know the name.53
Was hier in geradezu eklatanter Weise zum Vorschein kommt, sind die Folgen, die eine konsequente Durchführung der oben entfalteten Logik des Beispiels in einer Welt unmittelbare, scheinbar selbstidentischen Wissens haben muss. Gerade die Geschlossenheit des Orts mit seinem Anspruch eines lückenlosen Systems von Regeln, Anweisungen und Gesetzen, der letztlich dem Wahrheitsmodell des hermeneutischen Konstruktivismus, als eines immer nur annäherungsweise erreichbaren Ideals von restloser Objektivität entspricht, lässt die Funktionsweise des Beispiels präzise erkennbar werden, indem sie wie Hegel es für das Beispiel erläutert, die Lücke zwischen präsentierten Elementen und ihrer Repräsentation als Teilmengen in besonders reiner Form zu Tage fördert. Das, was Watt so „quält“, jene „hairbreadth departure from the true nature of a pot“, ist genau die nicht-reduzierbare „leere Menge”, die Badiou zu Folge in der Repräsentation einer jeden Vielheit eingeschlossen ist, hier aber beim Beispiel, als der einzige Zusatz zum exemplifizierten Element unübersehbar wird. Weil Watt als Hermeneut auf das „klassische“ Instrument der Hermeneutik, das Beispiel, angewiesen ist, dieses hier jedoch, in einer semantisch geschlossenen Welt, unvermeidlich seine anti-hermeneutische Wirksamkeit entfalten muss, ist er dazu gezwungen, seine Aufmerksamkeit direkt auf die leere Menge zu richten und ihr in seinem Denken und seinen gedanklichen Anstrengungen, an der Konsistenz von Sinn und Bedeutung festzuhalten, Ausdruck zu verleihen. Diese Anstrengungen manifestieren sich in ihrer inneren Widersprüchlichkeit anhand der oben schon erwähnten „Zwischenfälle“, der „incidents of note“, wobei der Vorgang der innerhalb dieser Entfaltung gewissermaßen als eigenständiges Phänomen sich artikulierenden leeren Menge formelhaft zugespitzt sich in Watts Unbehagen daran findet, „that nothing had happened, that a thing that was nothing had happened, with the utmost formal distinctness, and that it continued to happen […]. Watt could not accept […] that nothing had happened, with all the clarity and solidity of something […].“54 Im Folgenden wird es darum gehen, den ersten und zugleich wichtigsten dieser Zwischenfälle, den Besuch der Klavierstimmer („incident of the Galls“), exemplarisch einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.
Obwohl die Klavierstimmer-Szene zeitlich nur kurz nach Watts Dienstantritt in Mr. Knotts Haus stattfindet, ist sie bereits deutlich von der Tendenz des Bedeutungsschwunds gekennzeichnet. Dabei wird das hermeneutische Scheitern, das sich selbst in dem Sinne verkennt, das es nicht aus einem Misserfolg der Methode und Logik des Beispiels, normale Vielheiten zu konstruieren, resultiert, sondern gerade aus der konsequenten Durchführung der ihr in Wirklichkeit zu Grunde liegenden Funktionsweise, nicht nur auf inhaltlicher Ebene direkt durch die Erzählinstanz beschrieben – es versieht die Szene darüber hinaus auch mit einem dichten Motivgewebe und einer Reihe von Verweisen, die für den hier behandelten thematischen Zusammenhang von subtraktiver Ontologie, hermeneutischem Konstruktivismus und der Logik des Beispiels von nicht unbeträchtlicher Relevanz sind. Zwei von diesen Verweisen sollen hier kurz erläutert werden, bevor auf den eigentlichen Inhalt der Szene eingegangen wird.
Der erste Verweis findet sich gleich unter den ersten Sätzen der Szene; nachdem Watt den Klavierstimmern die Tür öffnet, stellen diese sich vor mit den Worten: „We are the Galls, father and son, and we are come, what is more, all the way from town, to choon the piano.”55 Dass die beiden im Verhältnis von Vater und Sohn zueinander stehen, ist vor dem Hintergrund einer sich durch den ganzen Roman hindurchziehenden, religiösen, meist christlich-theologischen Symbolik zu sehen, auf die auch Badiou hinweist. So wird Mr. Knott in verschiedener Weise als (abwesende, sich in seiner Präsenz zugleich entziehende) Gott- und Watt als Christus-Figur gezeichnet, wobei wiederholt die Abhängigkeit Mr. Knotts von Watt thematisiert und damit auf das dialektische Verhältnis zwischen der Unsterblichkeit des christlichen Gottes und seiner Fleischwerdung in seinem sterblichen Sohn angespielt wird. Dieses Verhältnis, das von Hegel in seiner Geistphilosophie aufgegriffen wird als die Notwendigkeit, dass wahrhafte Unendlichkeit, um wahrhaft unendlich zu sein, ihr scheinbares Gegenteil, das partikular Endliche, in sich aufnehmen, also sich in ihm verkörpern muss, so dass es dieses nicht als seine Grenze hat, sondern den Antagonismus zwischen Unendlichem und Endlichem in sich hinein nimmt, entspricht auch seinem, Hegels, Verständnis des Verhältnisses zwischen Wesen und Beispiel. Diese Angewiesenheit der Idee auf die sinnliche Erscheinung und ihr konstitutives Missverhältnis, ihre Unähnlichkeit, und beidseitige Überschüssigkeit drückt sich auch in dem Verhältnis von Vater und Sohn Gall aus:
They were two, and they stood, arm in arm, in this way, because the father was blind, like so many members of his profession. For if the father had not been blind, then he would not have needed his son to hold his arm, and guide him on his rounds, no, but he would have set his son free, to go about his own business. So Watt supposed, though there was nothing in the father’s face to show that he was blind, nor in his attitude either, except that he leaned on his son in a way expressive of a great need of support. […] There was no family likeness between the two […].56
Dass der Vater blind und auf das Sehvermögen des Sohnes angewiesen ist, bedeutet eine direkte Umkehr des berühmten esse est percipi57 von Berkeley: dieser hatte in seiner Philosophie die Idee priorisiert und behauptet, dass sinnliche Materie keine unabhängige Existenz besitzt, weil sie in Wirklichkeit nichts anderes als die wahrnehmende Tätigkeit des Geistes ist, so dass Dinge nur deshalb auch dann existieren können, wenn sie von keinem Menschen wahrgenommen werden, weil es Gott als ein zentrales, allwissendes und -sehendes Subjekt gibt. Die Umkehr dieses Prinzips entspricht Hegels Privilegierung des Beispiel vor dem Begriff, insofern es nun nicht mehr heißt, dass Dinge existieren, weil sie von Gott wahrgenommen werden, sondern dass sozusagen Gott nur existiert, weil jemand oder etwas ihn bezeugt, von ihm Zeugenschaft ablegt. Gott (das Wesen, das Konzept, der Begriff) ist auf das konkrete Beispiel, eine partikulare Endlichkeit angewiesen, in das er sich selbst als leere Menge einschließt, um sein wahres, antagonistisches Wesen zum Ausdruck zu bringen.
Das zweite wichtige Motiv, das in dieser Szene anklingt, ist in der Tätigkeit des Klavierstimmens selbst schon angelegt. In seinem Kommentar zu Watt greift Ackerley auf einen Aufsatz von Heath Lees zurück, der die verschiedenen Stimmungssysteme in der westlichen Musikgeschichte als für diese Szene relevanten Hintergrund anführt. Zentral ist dabei das sog. Pythagoreische Komma, ein sehr kleiner Intervall, der die frühere, pythagoreische oder reine Stimmung von neueren, wie der wohltemperierten oder der gleichstufigen Stimmung unterscheidet:
The “Pythagorean comma” is, Lees says (175), the difference between tuning twelve perfect fifths as opposing to seven perfect octaves, which piano tuners overcome by “tempering” the instrument, spreading the anomaly imperceptibly over the other notes within the octaves. The discrepancy, he concludes, lies at the heart of Western music, and this acoustical fact offers a sustained metaphor for Watt’s untuning: “inevitable not only because Watt is what he is, but also because Western music is what it is” (184).58
Nachdem die Klavierstimmer das Klavier inspiziert haben lautet ihr Befund: „The piano is doomed, in my opinion, said the younger. The piano-tuner also, said the elder. The pianist also, said the younger.”59 Diese allseitige Verstimmtheit und “Unstimmbarkeit” steht für das von nun an sich manifestierende Unvermögen Watts, sein Wissen von der Welt mit dieser selbst in ein harmonisches Stimmungsverhältnis zu bringen, ontologisch gesagt, die Präsentation mit der Repräsentation zur Deckung zu bringen. Das Pythagoreische Komma als Äquivalent zur leeren Menge lässt sich nicht mehr sinnvoll, d.h. „unsichtbar“ in das Wirklichkeitsgewebe einfügen und beginnt als verkörpertes Nichts, als nicht-reduzierbarer Rest in der geschlossenen Welt des Knottschen Hauses herumzuspuken und Watts Verstand heimzusuchen.
Das schlägt sich dann direkt nieder in der nachhaltigen Wirkung, die das Erlebnis dieser Szene, dieses Zwischenfalls, auf Watts geistiges Befinden und seine Fähigkeit, Sinn aus dem Geschehen um ihn herum zu schöpfen, hat, wobei diese Wirkung der Szene auf Watt so fundamental ist, dass sie als exemplarisch für alle ich nachfolgenden „Zwischenfälle“ charakterisiert wird:
This was perhaps the principal incident of Watt’s early days in Mr. Knott’s house. In a sense it resembled all the incidents of note proposed to Watt during his stay in Mr Knott's house, and of which a certain number will be recorded in this place, without addition, or subtraction, and in a sense not.
It resembled them in the sense that it was not ended, when it was past, but continued to unfold, in Watt's head, from beginning to end, over and over again, the complex connexions of its lights and shadows, the passing from silence to sound and from sound to silence, the stillness before the movement, and the stillness after, the quickenings and retardings, the approaches and the separations, all the shifting detail of its march and ordinance, according to the irrevocable caprice of its taking place. It resembled them in the vigour with which it developed a purely plastic content, and gradually lost, in the nice process of its light, its sound, its impacts and its rhythm, all meaning, even the most literal.
Thus the scene in the music-room, with the two Galls, ceased very soon to signify for Watt a piano tuned, an obscure family and professional relation, an exchange of judgements more or less intelligible, and so on, if indeed it had ever signified such things, and became a mere example of light commenting bodies, and stillness motion, and silence sound, and comment comment.60
Begreift man den Teil des Romans Watt, in dem der Aufenthalt Watts in Mr. Knotts Haus geschildert wird, im Sinne von Badious Definition der Fiktion in der Prosa als dem Operator des Denkens, durch den sich das Denken des Künstlers vom Denken des Philosophen unterscheidet, und folglich die Verfahrensweise dieses Operators künstlerischen Denkens als eine, die „den fiktiven Ort des Seins benenn[t]“61, der in im Fall von Mr. Knotts Haus der geschlossene Ort ist, dann lässt sich das Verhältnis zwischen der Geschlossenheit dieses Hauses und den in ihm auftretenden Zwischenfällen analog zu Hegels Verständnis des Verhältnisses zwischen Wesen und Erscheinung bzw. zwischen Begriff und Beispiel beschreiben. Die Benennung des fiktiven Orts des Seins weist dem Haus von Mr. Knott einerseits die Geschlossenheit im Sinne eines unveränderlichen Ganzen, dem auf Dauer nichts entnommen und nichts hinzugefügt werden kann,62 als sein Wesen zu (der Begriff sagt das Wesen), muss dann aber andererseits an einem Beispiel zeigen, wie diese Geschlossenheit in der konkreten Realität der Fiktion vorkommt.63 Die Funktion, die Hegels „Jetzt“ als das Allgemeine64 der sinnlichen Gewissheit hat, kommt in Bezug auf die Geschlossenheit des Hauses der Grenze oder seiner Türschwelle zu. So wie das „Jetzt“ in Hegels Beispiel den Begriff der sinnlichen Gewissheit als abstrakte Idealität bzw. als leere Menge repräsentiert, indem das Beispiel für den Begriff der sinnlichen Gewissheit formuliert: insofern der konkret datierbare Zeitpunkt „Nacht“ nicht datiert wird, also weder vergangener noch zukünftiger Zeitpunkt, sondern „jetzt“ ist, zeigt sich an ihm das Wesen der sinnlichen Gewissheit, so kann ähnlich, wenn auch etwas konstruiert klingend, für Watt formuliert werden: insofern die konkret verortbare Klavierstimmer-Szene nicht eindeutig verortet wird, also der Sinn- und Seinsordnung des Hauses von Mr. Knott weder klar zugehörig noch klar von ihr ausgeschlossen ist, sondern sich gewissermaßen an der Schwelle zu ihr befindend, zeigt sich an ihr das Wesen der Geschlossenheit des Hauses. Ganz im Sinne Hegels wird dem Begriff der Geschlossenheit über ein Beispiel von ihm der ihm inhärente Antagonismus aufgedeckt: die allgemeine Gestalt der Geschlossenheit, die Grenze, kann sich nur über ihre eigene Negation, die Transgression, definieren. Ein eindeutig als äußerlich, d.h. in der Situation des Hauses nicht präsentiertes Element, die Klavierstimmer, fällt auf einmal unter die semantische Jurisdiktion des Hauses. Die dem Haus nicht zugehörigen Klavierstimmer sind plötzlich in die Situation eingeschlossen, aber als eine leere Menge, die für das unbegreifliche, nicht sinnvoll zu repräsentierende, Sein als Sein steht; d.h. dieser Zwischenfall macht hier, vereinfacht gesagt, sichtbar (präsent), wofür normalerweise jede Situation blind ist: jene in jeder Menge enthaltene Vielheit, die den Ausschluss des reinen Seins garantiert.
Ausgehend von dem oben angeführten Zitat, in dem mit dem Dahinschwinden jeder erkennbaren Bedeutung der Szene sich zugleich eine Art reine Mannigfaltigkeit, ein bloßes Auf- und Abwogen rein sinnlicher Ströme einstellt, so dass es Watt unmöglich wird, überhaupt noch einzelne, voneinander distinkte präsentierte Elemente wahrzunehmen, lässt sich noch weiter spezifizieren, inwiefern hier von einer sozusagen „sichtbar gewordenen“ leeren Menge gesprochen werden kann. In Bezug auf das Ereignis verwendet Badiou den Begriff der Ereignisstätte um zu erklären, wie etwas, das nicht der Ordnung des Seins angehört (das Ereignis), trotzdem Konsequenzen für das Sein, d.h. in Situationen haben kann. Die Ereignisstätte hat sozusagen eine Schwellenfunktion, die zwischen dem Nicht-Sein des Ereignisses und dem Sein einer Situation vermitteln kann. In ontologischer Terminologie ausgedrückt, kann die Ereignisstätte dementsprechend als eine Vielheit definiert werden, die weder „normal“, noch im strengen Sinne „überschüssig“ oder „singulär“ ist, da weder ihre Elemente präsentiert sind, noch sie selbst als Teil der Situation repräsentiert ist:
Ich werde eine solche vollkommen anormale Vielheit, das heißt eine Vielheit, die so beschaffen ist, dass keines ihrer Elemente in der Situation präsentiert wird, eine Ereignisstätte [site événementiel] nennen. Die Stätte selbst, ist präsentiert, doch „unter“ ihr wird nichts von dem, was sie zusammensetzt, präsentiert, so dass sie kein Teil der Situation ist. Ich werde von einer solchen Vielheit – der Ereignisstätte – auch sagen, dass sie am Rand der Leere liegt bzw. dass sie grundlegend ist.65
Ed Pluth fasst diese Definition dann prägnant in der Form zusammen, dass „eine Ereignisstätte […] nicht Teil der Situation [ist], was heißt, dass sie nicht in der Situation repräsentiert ist; aber als Menge ist sie präsentiert, auch wenn keines ihrer Elemente präsentiert ist.“66 In Hinblick auf die hermeneutische Haltung Watts könnte man sagen, dass die Ereignisstätte die Präsenz der Abwesenheit von Sinn ist, dass sie also die Lücke zwischen Präsentation und Repräsentation als reine Mannigfaltigkeit einer ungegliederten sinnlichen Materialität präsentiert, d.h. sie als eigenständiges Element der Situation sichtbar macht. Dieses Sichtbarmachen entspricht im Wesentlichen dem, was Badiou die Arbeit der Subtraktion nennt, insofern es das Sein als eine von der repräsentativen Ebene der Situation, also ihrer semantischen Metastruktur, subtrahierte Vielheit präsentiert.
Im Verlauf des Romans werden die Bemühungen Watts, als unbeirrbarer Hermeneut, der er ist, jedoch zunehmen, diese reine und nicht repräsentierbare Mannigfaltigkeit doch in die Ordnung des Sinns zu integrieren, d.h. ihr einen Platz in der Repräsentation zuzuweisen, indem er versucht sie einer Zählung, d.h. einer strengen Gliederung und Abmessung zu unterwerfen. Badiou zu Folge ist jedoch genau dies aufgrund der unendlichen Mannigfaltigkeit des reinen Seins ontologisch nicht möglich:
Der für diese Gewissheit [der Wahrheit, dass das Sein eine reine Mannigfaltigkeit ohne Eins ist; R.K] zu zahlende Preis besteht darin, dass die Quantität eines Mannigfaltigen eine Unbestimmtheit trägt. eine Art trennenden Riss, der die ganze Wirklichkeit des Seins selbst ausmacht, denn es ist einfach unmöglich den quantitativen Bezug zwischen der „Anzahl“ der Elemente eines unendlichen Mannigfaltigen und der Anzahl seiner Teile zu denken. Dieser Bezug hat nur die Form eines unsteten Überschusses: Man weiß, dass die Teile zahlreicher sind als die Elemente (Cantors Theorem), sich eine Messung von diesem „Mehr“ jedoch nicht einrichten lässt. In diesem realen Punkt – dem unsteten Überschuss im qualitativ Unendlichen – machen sich die großen Orientierungen des Denkens fest. [Herv. i. T]67
Watts immer weiter ausufernde Versuche, die unendliche Mannigfaltigkeit zu zählen, um sie so in die semantische Metastruktur der Situation doch noch eingliedern zu können, bilden dann das wohl auffälligste formale Merkmal des Roman: die zum Ende hin sich teilweise über mehrere Seiten hinweg erstreckenden Paradigmen, in denen die Kombinations- und Anordnungsmöglichkeiten einer zunehmend größer werdenden Menge von Elementen, wie z.B. Mr. Knotts Möbelstücke oder die von Tag zu Tag wechselnden Merkmale seiner körperlichen Erscheinung, dem Anspruch einer erschöpfenden Aufzählung unterzogen werden.
Das Entscheidende an diesem hermeneutisch-konstruktivistischen Furor Watts ist jedoch, dass er genau das verhindert, was für das Auftreten, bzw. das Wirksamwerden eines Ereignisses in einer Situation nach Badiou notwendig wäre: die aufgrund der Ununterscheidbarkeit der Elemente der Ereignisstätte scheinbar unmögliche Benennung von einem einzelnen, ihr zugehörigen Element, das dann weil sein so „poetisch erfundener“ Name sich auf kein unterscheidbares Element bezieht, nur sich selbst zuzugehören scheint, deshalb also rein selbstreferentiell ist und es so der Situation unmöglich macht, konstruktivistisch zu entscheiden, ob das Element, das das Ereignis ist, zur Situation gehört oder nicht. Diese Unentscheidbarkeit der Zugehörigkeit des Ereignisses ermöglicht dann das, was Badiou eine Treue-Prozedur nennt: die dem Ereignis treuen Subjekte arbeiten an dem Aufbau einer neuen Gegenwart, einer Situation, die zu der alten Gegenwart der herrschenden Situation in Konkurrenz tritt, und in der der ontologische Status des Ereignisses als zu dieser neuen Situation zugehörig entschieden wäre.
In Watt jedoch bleibt es dabei, dass die Ereignisstätte – und das bestätigt wiederum ihren oben erläuterten Schwellenstatus – was die Undifferenzierbarkeit ihrer Elemente betrifft, das Prinzip wiederholt, das Badiou als den Ort des Halbdunkels, bzw. des antidialektischen Schwarz beschrieben hat, in welchem „das Sein, weit entfernt, sich in einer dialektischen Opposition zum Nichtsein denken zu lassen, eine trübe Äquivalenz mit ihm unterhält“68: „a thing that was nothing had happened“69 – nur diesmal sozusagen innerhalb und aus der Logik des geschlossenen Orts selbst hervorgehend und nicht einfach an seiner Peripherie und seinem Übergang zum offenen Ort.
Die Treue-Prozedur wird durch Watts ungebrochen hermeneutische Haltung also verhindert, weil die Arbeit der Subtraktion als „Fiktion in der Prosa“ nicht damit aufhört, die Zone der Ereignisstätten auszuweiten, indem sie, statt dem Ereignis, dem Halbdunkel einen Namen gibt, also „das Sein in seiner von jedem Ereignis entleerten Lokalisierung“70 benennt, das Sein, sofern es „das Sein eines leeren Orts ist, eines Orts, der Körper, der die Sprache, der Ereignisse erwartet“71. Wie in der Einleitung schon angemerkt wurde, ergibt sich dadurch die aus Badious Sicht für die moderne Dichtung typische Haltung der wartenden Subjektivität im Gegensatz zur militanten Subjektivität der politischen Treue-Prozeduren. Wartend ist diese Subjektivität, insofern sie sich selbst zwar nur als ein noch nicht fassen kann, als eine nur angekündigte reale Präsenz der Veränderung, aber durch ihre Tätigkeit doch beweist, dass es „nicht bloß den Ort [gibt]; oder, wie Mallarmé sagt, es […] nicht [stimmt], daß ‚nichts stattfindet als die Stätte’“72 Die Träne, die Watt bei seiner subtraktiven Arbeit vor Erschöpfung in den Topf des indifferenten, reinen Seins als diesem antidialektischen Ort des Halbdunkels fällt, bleibt von ihm selbst und der Situation zwar unbemerkt, aber zugleich werden mit der Ereignisstätten schaffenden Tätigkeit der Subtraktion die Bedingungen für das geschaffen, was Badiou als Subjektivierung bezeichnet: etwas, das eintritt, sobald Individuen sich dazu entscheiden, dem Namen eines Ereignisses treu zu sein. Oder wie Gibson schreibt: „The possibility of becoming a subject therefore always exists. […] the condition of the subject-to-be, prior to subjectification, is that of a banal actual infinity.”73 Und in eben diesem Sinn ist es zu verstehen, welches Potenzial im Hinblick auf das Ereignis die Dichtung in jener ereignisarmen oder reaktionären Zeit besitzt, die Badiou déchet (Gibson: „remainder“) nennt. Indem die Dichtung ihre Situation, ihre Welt, vor allem im (halbdunklen) Licht der Abwesenheit von Ereignissen zeichnet, subtrahiert sie diese Wirklichkeit (bzw. einen Teil von ihr) von der semantischen Metastruktur, die die Konsistenz dieser Wirklichkeit garantiert und schafft so die subjektiven Bedingungen für Veränderung: „Subtraction operates as a kind of clearing of the ground.“74 „The work of subtraction is the poets labour. Truths appear in ‚the retreat of all things’, or as the world is subtracted to make way for them. […] Every truth – every poetic truth, in particular – is haunted by the fear ‘that there is only the indifferent place, sand, rain, the ocean, the abyss’. The ‘indifferent place’ is what I have been calling the remainder.”75 Dieser “remainder” ist exakt das, was Badiou mit Becketts Ausdruck “unfruchtbare Erde, aber nicht ganz” bzw. dem Äquivalent dazu in Watt, “The range was almost out, but not quite”,76 als das Resultat der Arbeit der Subtraktion veranschaulicht: der leere, indifferente Ort des Seins, der Subjekte und Ereignisse erwartet.
Als Dichter in einer reaktionären und ereignisarmen Situation wird Becketts Werk für Badiou die Vollendung einer Poetik des Wartens und der Aufmerksamkeit dar:
For the poet can no longer be what he or she was in the nineteenth century, a figure of the vanguard. He or she is rather a ‘secret exception’. Modern poets commit themselves to a ‘poetics of waiting’, a poetics of the threshold. […] Vigilance – which Badiou also closely associates with Beckett – is an aspect of a subjectivity of the interim, the threshold, the déchet, dead time. Crucially, the poet never crosses the threshold, as the militant must do.77
Tatsächlich hat die Schwelle in Watt einen besonderen Status, sowohl im wörtlichen Sinn als Türschwelle des Hauses von Mr. Knott, als auch im übertragenen Sinn als Ereignisstätte. Hier wie dort liegt die Besonderheit darin, dass sie keine eindeutig lokalisierbare Grenze in sich erkennen lässt, sondern vielmehr den Charakter eines indifferenten Kontinuums besitzt. Die Schwelle bleibt eine präsentierte, aber nicht repräsentierte leere Menge, eine Ereignisstätte ohne Subjekt und Ereignis, ohne Sichtbarkeit des eigentlichen Moments der Veränderung.
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1 Alain Badiou: Beckett. Das Begehren ist nicht totzukriegen. Berlin 2006, S. 7.
2 Andrew Gibson: Beckett and Badiou. The Pathos of Intermittency. Oxford 2006, S. 21.
3 Ebd., S. 90.
4 Ebd., S, 105
5 Ebd., S. 103.
6Ebd., S. 104.
7Ebd. S. 22.
8Ebd., S. 26.
9 Vgl. Badiou, Beckett, S. 35.
10 Ebd., S. 37.
11Vgl. Ed Pluth, Badiou. Eine Philosophie des Neuen. Hamburg 2012, S. 41.
12 Vgl. ebd., S. 45f.
13Vgl. ebd., S. 47.
14 Vgl. ebd., S. 47.
15 Badiou, Beckett, S. 17.
16 Ebd.
17 Pluth, Badiou, S. 51.
18 Ebd., S. 52.
19 Diese Menge aller Teilmengen wird in der Mengenlehre „Potenzmenge“ genannt. Vgl. ebd., S.67.
20 In der Mengenlehre ist dies das Symbol für die Teilmenge, die keine Elemente der Grundmenge enthält. Vgl. ebd., S. 58.
21 Vgl. dazu die originale Formulierung bei Ernst Zermelo (einem der Begründer der modernen Mengenlehre): „Es gibt eine (uneigentliche) Menge, die ‚Nullmenge’ , welche gar keine Elemente enthält.“ Zit. n. Hoffmann, Dirk W.: Grenzen der Mathematik: Eine Reise durch die Kerngebiete der mathematischen Logik. Berlin 2013, S. 43.
22 Vgl. Pluth, Badiou, S. 59.
23 Friedhelm Rathjen: Beckett zur Einführung. Hamburg 1995, S. 11.
24 Ebd. S.33
25 Badiou, Beckett, S. 23
26 Ebd.
27 Ebd. S. 24.
28 Ebd. S. 25.
29 Samuel Beckett: Watt. Edited by C. J. Ackerley. London 2009, S. 5.
30 Ebd., S. 11. Hierzu passt auch, was C.J. Ackerley in seinem Kommentar zu einer anderen Textstelle ausführt: „The tragedy may be defined in terms of the Gestalt: with repeated familiarity the figure, as an organized whole, becomes one with the background against which it earlier stood out.“ Obscure Locks, Simple Keys. The Annotated Watt. Edinburgh 2010, S. 91.
31 Ebd., S. 29.
32 Ebd., S. 29f.
33 Eine ähnliche Ausmalung des halbdunklen, grauschwarzen Orts der Dämmerung lässt sich, in einer in Bezug auf die Erzählstruktur des Roman fast symmetrischen Form weiter hinten im Text beobachten: Zum einen die Szene, in der Watt das Haus zum Ende seiner Dienstzeit, wieder Nachts kurz vor der Morgendämmerung, verlässt, zum Andern, und noch deutlicher in einer Szene, in der er morgens in einem Wartezimmer des Bahnhofs auf den ersten Zug wartend, seine Aufmerksamkeit auf das kontinuierliche, kaum wahrnehmbare Hellerwerden des Lichts richtet.
34 Beckett, Watt, S. 30. Wie vieles in diesem Roman, ist das Motiv der Glut in dieser Stelle proleptisch in der oben behandelten Anfangsszene schon vorweggenommen: „These northwestern skies are really extraordinary, said Goff, are they not. So voluptuous, said Tetty. You think it is all over and then pop! up they flare, with augmented radiance.” Watt. S. 10. Noch klarer erscheint die motivische Vorwegnahme in der deutschen Übersetzung: “So sinnlich, sagte Tetty. Man glaubt, alles sei vorbei, und schwupp! flammen sie wieder auf, mit um so größerer Glut.“ Beckett, Watt, S. 15.
35 Badiou: Beckett, S. 12. Die Formulierung lautet bei Beckett original: „Terre ingrate, mais pas totalement.“
36 Ackerley, Obscure Locks, S. 57.
37 Beckett, Watt, S. 72f.
38 Badiou, Beckett, S. 36.
39 Beckett, Watt, S. 112.
40 Badiou, Beckett, S. 27.
41 Der der „Flucht der Erscheinungen“ folgt und, wie in Becketts ersten beiden veröffentlichten Romanen More Pricks Than Kicks und Murphy, eine mehr oder weniger rastlose Bewegung des Protagonisten impliziert.
42 Badiou, Beckett, S. 37.
43 Badiou, Beckett, S. 111.
44 Vgl. Pluth, Badiou, S. 69ff. Badiou veranschaulicht diese Typologie, indem er sie auf politischer Ebene in marxistischen Begriffen ausformuliert: als Beispiel für eine „normale“ Vielheit lässt sich die Bourgeoisie anführen, insofern deren Mitglieder nicht nur rechtlich als Staatsbürger anerkannt, sondern in der Form des bürgerlichen Staates auch als Klasse politisch organisiert sind. Dieser ist dann als Vielheit „überschüssig“, da er im Kern nichts anders als die Repräsentation bestimmter politischer Verhältnisse ist, eine Metastruktur, die die in der Situation präsentierten Elemente (Staatsbürger) als Teilmengen der Situation zueinander in Beziehung setzt. Als eine Menge von als präsentiert gezählten Elementen, die jedoch nicht als eine gesonderte Teilmenge organisiert sind, ist schließlich das Proletariat eine „singuläre“ Vielheit.
45 Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M. 2002, S. 31.
46 Ebd., S. 31f.
47 Todd McGowan: The Priority of the Example. Speculative Identity in Film Studies. In: Žižek and Media Studies. A Reader. Ed. by M. Flisfeder and L. Willis. New York 2014, S. 69.
48 Ebd.
49 Ebd., S. 70.
50 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Werke, Bd. 3. Frankfurt a.M. 1989, S. 82f.
51 Ebd. S. 84.
52 Beckett, Watt, S. 60.
53 Ebd., S. 67.
54 Beckett, Watt, S. 62f.
55 Ebd., S. 57.
56 Ebd., S. 57f.
57 Vgl. dazu Ackerley, Obscure Locks, S. 61, 175.
58Ebd., S. 89.
59 Beckett, Watt, S. 59.
60Ebd., S. 59f.
61 Badiou: Beckett, S. 23.
62 Vgl. dazu die oben schon zitierte Textstelle: „Watt had more and more the impression, as time passed, that nothing could be added to Mr. Knott's establishment, and from it nothing taken away, but that as it was now, so it had been in the beginning, and so it would remain to the end, in all essential respects, any significant presence, at any time, and here all presence was significant, even though it was impossible to say of what, proving that presence at all times, or an equivalent presence.”
63 Vgl. dazu Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 84: „Der Gegenstand ist also zu betrachten, ob er in der Tat, in der sinnlichen Gewißheit selbst, als solches Wesen ist, für welches er von ihr ausgegeben wird; ob dieser sein Begriff, Wesen zu sein, dem entspricht, wie er in ihr vorhanden ist. Wir haben zu dem Ende nicht über ihn zu reflektieren und nachzudenken, was er in Wahrheit sein möchte, sondern ihn nur zu betrachten, wie ihn die sinnliche Gewißheit an ihr hat.“
64 Vgl. ebd.: „Das Jetzt, welches Nacht ist, wird aufbewahrt, d. h. es wird behandelt als das, für was es ausgegeben wird, als ein Seiendes; es erweist sich aber vielmehr als ein Nichtseiendes. Das Jetzt selbst erhält sich wohl, aber als ein solches, das nicht Nacht ist; ebenso erhält es sich gegen den Tag, der es jetzt ist, als ein solches, das auch nicht Tag ist, oder als ein Negatives überhaupt. Dieses sich erhaltende Jetzt ist daher nicht ein unmittelbares, sondern ein vermitteltes; denn es ist als ein bleibendes und sich erhaltendes dadurch bestimmt, daß anderes, nämlich der Tag und die Nacht, nicht ist. Dabei ist es eben noch so einfach als zuvor, Jetzt, und in dieser Einfachheit gleichgültig gegen das, was noch bei ihm herspielt; sowenig die Nacht und der Tag sein Sein ist, ebensowohl ist es auch Tag und Nacht; es ist durch dies sein Anderssein gar nicht affiziert. Ein solches Einfaches, das durch Negation ist, weder Dieses noch Jenes, ein Nichtdieses, und ebenso gleichgültig, auch Dieses wie Jenes zu sein, nennen wir ein Allgemeines; das Allgemeine ist also in der Tat das Wahre der sinnlichen Gewißheit.“
65 Alain Badiou: Das Sein und das Ereignis. Berlin 2005, S. 200f.
66 Pluth, Badiou, S. 73.
67 Badiou: Manifest für die Philosophie. Wien 2010, S. 70f.
68 Badiou, Beckett, S. 27.
69 Beckett, Watt, S. 62f.
70 Badiou, Beckett, S. 25.
71 Ebd., S. 26.
72 Ebd., S. 27.
73 Gibson, Badiou and Beckett, S. 59f.
74 Ebd., S. 122.
75 Ebd., S. 104.
76 Vgl. für beide Ausdrücke S.11 in diesem Text.
77 Gibson, Badiou and Beckett, S. 106.