a protester throwing a stone during May '68 uprising in Paris

„Die Tendenz der Materie selber“

Rancière, Brecht und die Avantgarde

Posted by Roman Kowert on December 13, 2024

Einleitung

Dieser Beitrag verfolgt das Ziel, die uneindeutige Position der Forschung in der Frage, ob das epische Theater Bertolt Brechts der Avantgarde (im engeren oder im weiteren Sinne) zuzurechnen sei,1 für die Auslotung neuer Perspektiven auf den Begriff der Avantgarde selbst fruchtbar zu machen. Die bisherige Avantgardeforschung stand in maßgeblicher Weise unter dem Einfluss Peter Bürgers (Hjartarson 2005: 44), der die zentrale avantgardistische Forderung nach einem Bruch mit der klassischen, bürgerlichen Kunst (Asholt 2014: 327) in den Mittelpunkt seiner Theorie der Avantgarde stellte (Bürger 1974: 44, 85).2 Dieser kanonischen Sicht auf die Avantgarde widerspricht Jacques Rancière, indem er bürgerliche Autonomieästhetik und Avantgarde wie auch Postmoderne und Kulturindustrie als gleichermaßen „strukturelle Möglichkeiten“ (Wedemeyer 2017: 186) desselben „ästhetischen Regimes der Kunst“ begreift (Rancière 2016: 41 f., 45 ff.). Das Spannungsverhältnis, in dem sich Rancières Position somit gegenüber Bürgers Emphase des „Bruchs“ befindet, bildet den theoretischen Hintergrund der folgenden Untersuchung.

Denn während er jenen Bruch zurückweist, führt er einen neuen Bruch in Form eines „internen Widerspruchs des Avantgardismus“ wieder ein, der eine „unzweideutige Definition“ desselben ausschließt (Rancière et al. 2008: 407). Dieser Widerspruch der Avantgarde setzt dabei einerseits zwar nur das laut Rancière bereits für das ästhetische Regime selbst grundlegende Paradox fort, eine autonome Sphäre ästhetischer Erfahrung einzurichten und zugleich die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst aufzulösen (Rancière 2016: 49). Andererseits laufe die Avantgarde, anders als das ästhetische Regime insgesamt, Gefahr, dieses Paradox vor allem nach der einen Seite hin zu radikalisieren (v. a. in Form ihrer Idee einer Intervention der Kunst in das Leben). Sie drohe auf diesem Weg in jene erzieherischen Paradigmen zurückzufallen, die schon Platons ethische Indienstnahme der Kunst bedingt hatten (Rancière et al. 2008: 406). Das hat zur Folge, dass Rancière, obgleich er die Partizipation der Avantgarde am emanzipatorischen Moment des ästhetischen Regimes grundsätzlich anerkennt, eben dies für viele konkrete avantgardistische Strömungen, wie etwa den Futurismus oder den Konstruktivismus, in Zweifel zieht (Rancière 2009: 69). In diesem Sinne beurteilt er auch Brechts episches Theater, dessen pädagogischer Charakter das eigentlich egalitäre und befreiende Moment der modernen Kunst untergrabe (Rancière 2009: 18 ff.).

Wie in diesem Beitrag gezeigt werden soll, beruht diese Einschätzung aber darauf, dass sie spezifische historische Möglichkeitsbedingungen des epischen Theaters nicht in Betracht zieht. Diese deuten sich an, wenn Brecht 1927 von dem „Schock“ spricht, den die „Sichtung der Ökonomie“, als „realste Realität“ im Rahmen seiner Arbeit an dem Fragment Jae Fleischhacker bei ihm bewirkte (Brecht 1992b: 443). Derartige Äußerungen verweisen auf die entscheidende Bedeutung, die die ökonomische Realität für Brechts Poetik hatte und auf den fundamentalen Gegensatz dieser Poetik zu Prinzipien, durch die sich das ästhetische Regime oder auch die Höhenkammästhetik für Rancière von historisch früheren Paradigmen der Kunst absetzt. Denn der Egalitarismus, der in den Rancière zufolge ursprünglichen Formulierungen des ästhetischen Regimes durch Kant und Schiller zum Ausdruck kommt, trägt selbst einen bestimmten historischen Index. Die Befreiung, auf die er abzielt, ist spezifisch die des Subjekts und seiner sinnlichen Vermögen von den Vorgaben rationalistischer Philosophie und traditioneller, regelpoetischer Kunstlehren (und damit von der in ihnen verkörperten politischen Herrschaft des Ständestaats). Das epische Theater aber richtet sich umgekehrt gegen die in der bürgerlichen Gesellschaft ökonomisch vermittelten, gleichmachenden Zwänge der Subjektposition, die das Publikum auf den Status sinnlich Genießender und die (Kopf-)Arbeiter:innen auf die Funktion bloßer Lieferanten der Produktionsapparate reduzieren (Brecht 1989b: 74 f.).

Exemplarisch lässt sich dieser Gegensatz an den jeweils unterschiedlichen Konzeptualisierungen des sinnlichen Vermögens des Sehens kenntlich machen. Dem ästhetischen Regime zugehörige Kunstwerke ermöglichen ein Sehen, das Effekt einer ästhetischen Aufhebung von politisch instituierten Hierarchien ist. Rancière erläutert dies anhand von Schillers Beschreibung der antiken Götterstatue der Juno Ludovisi. In der in sich ruhenden, jedem äußerlichen Zweck gegenüber gleichgültigen Selbstgewissheit, die aus dem nach innen gewandten Blick dieser Statue spricht, bringt sich eine bestimmte Art von Kunst zum Ausdruck. Es ist eine Kunst, die, befreit von der Funktion, bloßes Darstellungsmittel einer (hierarchisch organisierten) sozialen Wirklichkeit zu sein, zugleich die Möglichkeit einer freien Gemeinschaft verkörpert, in der die Individuen sich immer als „Zweck, niemals bloß als Mittel“ (Kant 2016: 55) gegenübertreten. Der (An-)Blick der Götterstatue gewährt dem betrachtenden Subjekt in diesem Sinne, das eigene Sehen als eine ebenso autoreferenzielle wie von äußeren Zwecken freie Praxis zu erfahren. Indirekt wird damit eine Form von Gesellschaft präfiguriert, in der mit den sinnlichen Vermögen (wie dem Sehen) auch das Leben als solches aus jedem Herrschaftsverhältnis entlassen ist.

Dass diese Praxis dabei aber ein subjekt- und kunstinternes Geschehen und in Bezug auf die soziale Wirklichkeit bloßes Versprechen, kritisch gesprochen also folgenlos bleibt (Wedemeyer 2017: 187), ist der Punkt, von dem das Sehen, auf welches das epische Theater abzielt, am stärksten abweicht. Die Gleichheit, die das ästhetische Regime an die Stelle politischer Hierarchien setzen möchte, findet das epische Theater in der Form einer abstrakten ökonomischen Gleichheit aller als privaten Warenbesitzern und -konsumenten schon vor. Es geht ihm deshalb darum, die hinter dieser nur scheinbaren Gleichheit befindliche tatsächliche sinnliche Ungleichheit, das gegensätzliche Verhältnis, das Besitzende und Arbeitende jeweils zu den Dingen haben, sichtbar zu machen. Wie die klassisch-autonome Kunst intendiert das epische Theater also keine realistische oder naturalistische Reproduktion der Wirklichkeit. Anders als sie beschränkt es sich aber nicht auf eine subjektinterne Realität und ein ihr entsprechendes „subjektives“ Anders-Sehen. Stattdessen strebt es ein „richtiges“ Sehen an (Brecht 1993b: 585), das die von der Fiktion einer ökonomischen Gleichheit und Freiheit der Subjekte verdeckte Gewalt und Ungleichheit der menschlichen Beziehungen, also eine bewusstseinsexterne Wirklichkeit, erkennt und damit erst veränderbar werden lässt.3 Im Folgenden wird nachzuweisen sein, inwiefern Rancières Skepsis gegenüber dem epischen Theater in dem Gegensatz dieser ästhetischen Ansätze gründet und welche Schlüsse sich daraus für eine neue Perspektivierung des Begriffs der Avantgarde ziehen lassen.

 

Rancières Brecht-Interpretation in Der emanzipierte Zuschauer

In seinem Aufsatz Der emanzipierte Zuschauer stellt Rancière das Theater Brechts in den Kontext theaterreformatorischer Bewegungen im 20. Jahrhundert.4 Den Ausgangspunkt dieser Bewegungen bildet für Rancière ein ästhetisches Problem, das er das „Paradox des Zuschauers“ (Rancière 2009: 12) nennt. Dieses besteht für ihn in der Annahme, dass es einerseits ohne Zuschauer kein Theater geben könne, es andererseits aber „schlecht ist, Zuschauer zu sein“ (Rancière 2009: 12), weil das Zuschauen sowohl vom Erkennen als auch vom Handeln abhalte. Um dieses Problem zu lösen, fordern die Theaterreformer:innen ein Theater, das sich gegen sein eigenes Wesen richtet: ein Theater ohne Zuschauer, wie Rancière es zuspitzend ausdrückt. Das Geschehen auf der Bühne soll gänzlich dem Zweck folgen, das Publikum zu aktivieren und „passive Voyeurs [sic]“ (Rancière 2009: 14) in bewusste Akteure zu verwandeln. Statt sich dem Genuss von Bildern hinzugeben, sollen Zuschauer:innen lernen, die Wirklichkeit hinter den Erscheinungen zu erkennen und handelnd auf sie einwirken. Besonders klar ausgeprägt ist diese Logik Rancière zufolge in Guy Debords Kritik des Spektakels. Das Sehen wird hier als ein Prinzip verstanden, das den Menschen sein ihm wesentliches Vermögen der Aktivität als eine ihm äußerliche und entfremdete Erscheinung auf der Bühne anschauen lässt. Die räumliche Trennung zwischen der Aktivität auf der Bühne und der Passivität des Publikums führt zu der Trennung des Menschen von seinem Wesen (Rancière 2018: 16.). Den theoriegeschichtlichen Ursprung dieser Denkweise verortet Rancière dabei, vermittelt über Marxʼ Entfremdungstheorie, in der Religionskritik Feuerbachs (Rancière 2016: 16 f., 26).

Für Rancière ist das dieser Logik folgende reformierte Theater dabei in einer grundlegenden Aporie gefangen. Sie besteht darin, dass es das Ziel hat, einen Mangel, nämlich die Entfremdung des Menschen von seinem Wesen, zu beheben, den es zugleich auch selbst verkörpert: es verwendet „seine getrennte Wirklichkeit, um sie zu beseitigen“, stellt „eine Vermittlung dar, die auf ihre eigene Aufhebung ausgerichtet ist“ (Rancière 2009: 17 f.). In diesem Dilemma erkennt Rancière ein ähnlich paradoxes Verhältnis wieder, mit dem er sich bereits 1987 in seinem Buch Der unwissende Lehrmeister befasst hatte, welches von der emanzipatorischen Pädagogik Joseph Jacotots (1770–1840) handelt (Rancière 2018). Jacotot kritisierte die konventionelle Pädagogik, weil sie aus seiner Sicht das Gegenteil von dem bewirkte, was sie sich zum Ziel setzte. Da sie von der Notwendigkeit ausgehe, dass die Lehrmeister:innen die Unwissenheit der Schüler:innen von wahrem Wissen unterscheiden können müssen, verlange sie, dass erstere gegenüber den letzteren immer einen Wissensvorsprung zu haben hätten. Dadurch würde aber der intellektuelle Abgrund zwischen Lehrenden und Lernenden nicht verringert, was das ursprüngliche Ziel war, sondern umgekehrt gerade immer wieder aufs Neue reproduziert (Rancière 2009: 18–20). Die Kernaussage Rancières ist nun, dass der Ungleichheit, die sich in dieser Zirkelbewegung verstetigt, beim Theater Brechts eine ganz ähnliche Ungleichheit entspricht. Wie in der pädagogischen Situation würde sich auch hier eine hierarchische Beziehung zwischen dem Wissen derer, die das Theater machen und dem Unwissen derer, die bei dieser Aktivität nur zuschauen, verfestigen (Rancière 2009: 21 f.).

Diese analogisierende Beurteilung des Theaters und der Pädagogik als Werkzeuge der Ungleichheit steht bei Rancière in einem engen Zusammenhang mit den Erfahrungen, die er mit seinem eigenen „Lehrmeister“, Louis Althusser, gemacht hat. Althusser verhielt sich in Rancières Wahrnehmung ähnlich widersprüchlich wie die von Jacotot kritisierten Pädagogen. Einerseits beanspruchte er den Zugriff auf das korrekte theoretische Verständnis der Marxʼschen Lehre. Andererseits verwarf er jede Praxis als fehlgeleitet, die sich unabhängig von seiner theoretischen Autorität auf marxistische Ideale berief, wie z. B. die der Proteste im Mai 1968 (Davis 2010: 7 f., 14 f.). Vor dem Hintergrund von Rancières seit dieser Erfahrung durchgängig kritischen Haltung zum Marxismus (Rancière 2016: 29; Fisken 2014) sticht es natürlich ins Auge, wenn er an anderer Stelle, in seinem Buch Das Unbehagen in der Ästhetik, explizit eine strukturelle Analogie zwischen dem ästhetischen Regime und dem Marxismus herstellt, die er beide als Formen von „Metapolitik“ beschreibt. Dies seien sie, weil sie beide „den politischen Konflikt dadurch beenden [wollen], dass sie die Bühne wechsel[n], von den Scheinbarkeiten der Demokratie und den Staatsformen zu der darunter liegenden Bühne unterirdischer Bewegungen und konkreter Energien, die sie begründen“ (Rancière 2016: 41).5

Im Kontext dieser ambivalenten Haltung Rancières zum Marxismus erweist sich nun aber auch seine Brecht-Kritik als widersprüchlich. Denn das epische Theater gerät für Rancière ja vor allem im Zusammenhang mit seiner marxistischen Orientierung und der durch diese implizierten anti-emanzipatorischen Pädagogik in Konflikt mit den Prinzipien des ästhetischen Regimes. Die pädagogische Ungleichheit von Wissen(den) und Unwissen(den) lässt sich aber in der oben beschriebenen Metapolitik als Differenzierung zwischen dem Schein der Politik und der Wahrheit konkreter „Formen sinnlicher Existenz“ wiedererkennen. Die Unterscheidung zwischen Wissen und Unwissen, die Rancière bei Marx, Althusser, Debord und dem Reformtheater kritisiert, wiederholt er also strukturell in seinem Konzept der Metapolitik. Der tatsächliche Gegensatz zwischen den beiden Arten von Metapolitik liegt so betrachtet also nicht in der Frage, ob Wissen und Unwissen unterschieden werden, sondern darin, worin das Wissen der wissenden Position und das Unwissen der unwissenden Position jeweils bestehen. Wenn Rancières Beschreibung des Marxismus als einer Metapolitik zutrifft und zugleich das epische Theater auf eben dieser Metapolitik gründet,6 würde sich der Gegensatz von Wissen und Unwissen folgendermaßen darstellen. Die wissende Position im epischen Theater wäre eine, die um die Wirklichkeit der sinnlichen Formen der Produktionsverhältnisse weiß, innerhalb welcher die menschlichen Beziehungen auf der strukturellen Ungleichheit derer beruhen, die jeweils unterschiedliche Stellungen im Produktionsprozess einnehmen. Die unwissende Position dagegen wäre jene, die der Abstraktion des bürgerlichen Staats von dieser Ungleichheit folgte und von dem Schein einer Gleichheit aller Staatsbürger als Warenbesitzer ausginge.